Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der aristokratischen Gesellschaft auszuscheiden und den übri- gen Classen und Schichten der Gesellschaft beizutreten. Ohne Vermögen, ohne liberalen Lebensberuf, ohne feinere Bildung, ist das aristokratische Ansehen und die Eigenschaft der Ari- stokratie weder zu erwerben noch zu behaupten. Um desz- willen ist der Begriff der ganzen Classe ein flüssiger, kein fester. Sie ist einer beständigen Aenderung durch neue Zu- flüsse und Abflüsse ausgesetzt. Gerade deszhalb ist sie zu- nächst mit der verwandten dritten Classe, dem höhergebil- deten Bürgerthum, durch zahlreiche Uebergänge eng verbun- den. Aus demselben Grunde darf auch die Ehegenossenschaft derselben mit den übrigen Classen nicht verhindert oder zer- rissen werden.
Zuerst ist die Umbildung des mittelalterlichen Adels in die moderne Aristokratie in England, unter einer aristokra- tisch gesinnten Nation langsam vollzogen worden. Auf dem europäischen Continent dagegen ist die mittelalterliche Insti- tution des Adels eine Ruine, deren Trümmer gelegentlich die Bahnen des öffentlichen Lebens hemmen und stören und die neue Aristokratie ist noch in ganz unklaren Verhält- nissen und in einem vielfältig bestrittenen Dasein. In der Gesellschaft und sogar thatsächlich in den Sitten der Höfe und in den Ernennungen zu den höheren Aemtern und Stellen sind allenthalben die Wirkungen der Aristokratie wahrnehm- bar, aber in dem Rechts- und Statsbewusztsein der euro- päischen Nationen hat sie noch keinen anerkannten Platz.
Es ist eine Aufgabe für das deutsche Reich, diesen Mangel durch eine zeitgemäsze Reform zu corrigiren. Grund- sätzlich ist übrigens an dem Ergebnisz der Weltgeschichte festzuhalten. Die Aristokratie darf weder ein abgeschlossener Stand sein, noch gebührt ihr die Herrschaft im State. Es kommt ihr nur eine die Gewalt der Obrigkeit ermäszigende und die Leidenschaften der Masse beschränkende, die öffent- lichen Zustände veredelnde Mittelstellung im State zu.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der aristokratischen Gesellschaft auszuscheiden und den übri- gen Classen und Schichten der Gesellschaft beizutreten. Ohne Vermögen, ohne liberalen Lebensberuf, ohne feinere Bildung, ist das aristokratische Ansehen und die Eigenschaft der Ari- stokratie weder zu erwerben noch zu behaupten. Um desz- willen ist der Begriff der ganzen Classe ein flüssiger, kein fester. Sie ist einer beständigen Aenderung durch neue Zu- flüsse und Abflüsse ausgesetzt. Gerade deszhalb ist sie zu- nächst mit der verwandten dritten Classe, dem höhergebil- deten Bürgerthum, durch zahlreiche Uebergänge eng verbun- den. Aus demselben Grunde darf auch die Ehegenossenschaft derselben mit den übrigen Classen nicht verhindert oder zer- rissen werden.
Zuerst ist die Umbildung des mittelalterlichen Adels in die moderne Aristokratie in England, unter einer aristokra- tisch gesinnten Nation langsam vollzogen worden. Auf dem europäischen Continent dagegen ist die mittelalterliche Insti- tution des Adels eine Ruine, deren Trümmer gelegentlich die Bahnen des öffentlichen Lebens hemmen und stören und die neue Aristokratie ist noch in ganz unklaren Verhält- nissen und in einem vielfältig bestrittenen Dasein. In der Gesellschaft und sogar thatsächlich in den Sitten der Höfe und in den Ernennungen zu den höheren Aemtern und Stellen sind allenthalben die Wirkungen der Aristokratie wahrnehm- bar, aber in dem Rechts- und Statsbewusztsein der euro- päischen Nationen hat sie noch keinen anerkannten Platz.
Es ist eine Aufgabe für das deutsche Reich, diesen Mangel durch eine zeitgemäsze Reform zu corrigiren. Grund- sätzlich ist übrigens an dem Ergebnisz der Weltgeschichte festzuhalten. Die Aristokratie darf weder ein abgeschlossener Stand sein, noch gebührt ihr die Herrschaft im State. Es kommt ihr nur eine die Gewalt der Obrigkeit ermäszigende und die Leidenschaften der Masse beschränkende, die öffent- lichen Zustände veredelnde Mittelstellung im State zu.
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[204/0222]
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der aristokratischen Gesellschaft auszuscheiden und den übri-
gen Classen und Schichten der Gesellschaft beizutreten. Ohne
Vermögen, ohne liberalen Lebensberuf, ohne feinere Bildung,
ist das aristokratische Ansehen und die Eigenschaft der Ari-
stokratie weder zu erwerben noch zu behaupten. Um desz-
willen ist der Begriff der ganzen Classe ein flüssiger, kein
fester. Sie ist einer beständigen Aenderung durch neue Zu-
flüsse und Abflüsse ausgesetzt. Gerade deszhalb ist sie zu-
nächst mit der verwandten dritten Classe, dem höhergebil-
deten Bürgerthum, durch zahlreiche Uebergänge eng verbun-
den. Aus demselben Grunde darf auch die Ehegenossenschaft
derselben mit den übrigen Classen nicht verhindert oder zer-
rissen werden.
Zuerst ist die Umbildung des mittelalterlichen Adels in
die moderne Aristokratie in England, unter einer aristokra-
tisch gesinnten Nation langsam vollzogen worden. Auf dem
europäischen Continent dagegen ist die mittelalterliche Insti-
tution des Adels eine Ruine, deren Trümmer gelegentlich
die Bahnen des öffentlichen Lebens hemmen und stören und
die neue Aristokratie ist noch in ganz unklaren Verhält-
nissen und in einem vielfältig bestrittenen Dasein. In der
Gesellschaft und sogar thatsächlich in den Sitten der Höfe
und in den Ernennungen zu den höheren Aemtern und Stellen
sind allenthalben die Wirkungen der Aristokratie wahrnehm-
bar, aber in dem Rechts- und Statsbewusztsein der euro-
päischen Nationen hat sie noch keinen anerkannten Platz.
Es ist eine Aufgabe für das deutsche Reich, diesen
Mangel durch eine zeitgemäsze Reform zu corrigiren. Grund-
sätzlich ist übrigens an dem Ergebnisz der Weltgeschichte
festzuhalten. Die Aristokratie darf weder ein abgeschlossener
Stand sein, noch gebührt ihr die Herrschaft im State. Es
kommt ihr nur eine die Gewalt der Obrigkeit ermäszigende
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/222>, abgerufen am 24.11.2024.
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