Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer seheinbaren Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne Sicher- heit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen Terri- torien waren fähig, eine relative statliche Existenz zu behaupten; die meisten waren auch dazu zu schwach an Mitteln und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft aber wurde selten so geübt, dasz die Interessen der deutschen Nation ge- fördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die Volks- freiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Richtung ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichsstände zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen.
In diesem Stande war auch die Neigung sich familien- artig abzuschlieszen besonders stark vertreten. Es zeigt sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit, in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der Ausbreitung des gleichen Standesrechts auf sämmtliche Kinder. Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von beiderseitiger Abstammung aus hochfreien Familien galt als völlig untadelhaft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer Mittelfreien wurde in vielen dynastischen Familien schon als Miszheirath betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die fürstliche Erbfolge der Söhne gefährde. Zwar konnte noch der König durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen Mangel heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die unzweifelhafte Miszheirath, besonders mit einer Frau von nie- derer Herkunft aus kleinbürgerlichem oder bäuerlichem oder
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer seheinbaren Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne Sicher- heit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen Terri- torien waren fähig, eine relative statliche Existenz zu behaupten; die meisten waren auch dazu zu schwach an Mitteln und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft aber wurde selten so geübt, dasz die Interessen der deutschen Nation ge- fördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die Volks- freiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Richtung ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichsstände zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen.
In diesem Stande war auch die Neigung sich familien- artig abzuschlieszen besonders stark vertreten. Es zeigt sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit, in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der Ausbreitung des gleichen Standesrechts auf sämmtliche Kinder. Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von beiderseitiger Abstammung aus hochfreien Familien galt als völlig untadelhaft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer Mittelfreien wurde in vielen dynastischen Familien schon als Miszheirath betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die fürstliche Erbfolge der Söhne gefährde. Zwar konnte noch der König durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen Mangel heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die unzweifelhafte Miszheirath, besonders mit einer Frau von nie- derer Herkunft aus kleinbürgerlichem oder bäuerlichem oder
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer seheinbaren
Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne Sicher-
heit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen Terri-
torien waren fähig, eine relative statliche Existenz zu
behaupten; die meisten waren auch dazu zu schwach an Mitteln
und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft aber wurde
selten so geübt, dasz die Interessen der deutschen Nation ge-
fördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die Volks-
freiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Richtung
ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichsstände
zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen.
In diesem Stande war auch die Neigung sich familien-
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sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit,
in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der
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Kinder. Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von
beiderseitiger Abstammung aus hochfreien Familien galt als
völlig untadelhaft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer
Mittelfreien wurde in vielen dynastischen Familien schon als
Miszheirath betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die
fürstliche Erbfolge der Söhne gefährde. Zwar konnte noch der
König durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen
Mangel heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch
freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im
einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich
ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich
ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der
Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang
morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen
Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des
Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/184>, abgerufen am 28.11.2024.
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