Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen-
haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber
nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen
eigenen selbständigen Nationaltypus, sondern sind nur ein
eigenthümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemein-
samen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort
und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern
Gegensätze, welche auf die Natur der Nation einwirken. Der
Mannichfaltigkeit und dem Reichthum des nationalen Lebens
ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines
gröszeren nationalen States aber ist sie oft zum Hindernisz
geworden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien,
welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten,
stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen
der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge-
sammtstat bringen können. Die dorische Statenbildung war
verschieden von der jonischen und beide wieder von der äto-
lischen. Auch in der neueren Statenbildung Europas hat der
Gegensatz der Stämme stark gewirkt, besonders unter den
Deutschen, deren älteste Statenbildung Organisation der Stämme
bedeutete. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand
darin eine reichliche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit
ein starkes Hemmnisz. Italien und Deutschland haben das
erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme
früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Aus-
bildung der Städte, hier vorzüglich durch die Politik der
Könige und Sonderung der landesherrlichen Territorien. Aber
fortwährend war doch ein Stammesparticularismus in der
städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zer-
schlagung der älteren Stammesherzogthümer die gröszeren
Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt
wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der
Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deut-
schen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen-
haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber
nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen
eigenen selbständigen Nationaltypus, sondern sind nur ein
eigenthümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemein-
samen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort
und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern
Gegensätze, welche auf die Natur der Nation einwirken. Der
Mannichfaltigkeit und dem Reichthum des nationalen Lebens
ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines
gröszeren nationalen States aber ist sie oft zum Hindernisz
geworden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien,
welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten,
stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen
der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge-
sammtstat bringen können. Die dorische Statenbildung war
verschieden von der jonischen und beide wieder von der äto-
lischen. Auch in der neueren Statenbildung Europas hat der
Gegensatz der Stämme stark gewirkt, besonders unter den
Deutschen, deren älteste Statenbildung Organisation der Stämme
bedeutete. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand
darin eine reichliche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit
ein starkes Hemmnisz. Italien und Deutschland haben das
erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme
früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Aus-
bildung der Städte, hier vorzüglich durch die Politik der
Könige und Sonderung der landesherrlichen Territorien. Aber
fortwährend war doch ein Stammesparticularismus in der
städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zer-
schlagung der älteren Stammesherzogthümer die gröszeren
Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt
wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der
Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deut-
schen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0140" n="122"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.</fw><lb/>
der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen-<lb/>
haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber<lb/>
nur <hi rendition="#g">Fractionen der Nationen</hi>, d. h. sie haben keinen<lb/>
eigenen selbständigen Nationaltypus, sondern sind nur ein<lb/>
eigenthümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemein-<lb/>
samen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort<lb/>
und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern<lb/>
Gegensätze, welche auf die Natur der Nation einwirken. Der<lb/>
Mannichfaltigkeit und dem Reichthum des nationalen Lebens<lb/>
ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines<lb/>
gröszeren nationalen States aber ist sie oft zum Hindernisz<lb/>
geworden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien,<lb/>
welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten,<lb/>
stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen<lb/>
der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge-<lb/>
sammtstat bringen können. Die dorische Statenbildung war<lb/>
verschieden von der jonischen und beide wieder von der äto-<lb/>
lischen. Auch in der neueren Statenbildung Europas hat der<lb/>
Gegensatz der Stämme stark gewirkt, besonders unter den<lb/>
Deutschen, deren älteste Statenbildung Organisation der Stämme<lb/>
bedeutete. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand<lb/>
darin eine reichliche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit<lb/>
ein starkes Hemmnisz. Italien und Deutschland haben das<lb/>
erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme<lb/>
früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Aus-<lb/>
bildung der Städte, hier vorzüglich durch die Politik der<lb/>
Könige und Sonderung der landesherrlichen Territorien. Aber<lb/>
fortwährend war doch ein Stammesparticularismus in der<lb/>
städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zer-<lb/>
schlagung der älteren Stammesherzogthümer die gröszeren<lb/>
Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt<lb/>
wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der<lb/>
Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deut-<lb/>
schen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0140] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen- haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen eigenen selbständigen Nationaltypus, sondern sind nur ein eigenthümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemein- samen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern Gegensätze, welche auf die Natur der Nation einwirken. Der Mannichfaltigkeit und dem Reichthum des nationalen Lebens ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines gröszeren nationalen States aber ist sie oft zum Hindernisz geworden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien, welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten, stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge- sammtstat bringen können. Die dorische Statenbildung war verschieden von der jonischen und beide wieder von der äto- lischen. Auch in der neueren Statenbildung Europas hat der Gegensatz der Stämme stark gewirkt, besonders unter den Deutschen, deren älteste Statenbildung Organisation der Stämme bedeutete. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand darin eine reichliche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit ein starkes Hemmnisz. Italien und Deutschland haben das erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Aus- bildung der Städte, hier vorzüglich durch die Politik der Könige und Sonderung der landesherrlichen Territorien. Aber fortwährend war doch ein Stammesparticularismus in der städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zer- schlagung der älteren Stammesherzogthümer die gröszeren Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deut- schen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/140
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/140>, abgerufen am 23.11.2024.