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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze,
und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel-
mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab-
zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich
selber fähig sind?"



Fünftes Capitel.
III. Die Gesellschaft.

Die französische Statslehre ist besonders seit Rousseau
geneigt, den Stat als Gesellschaft zu betrachten, und die Be-
griffe Volk (nation) und Gesellschaft, Nation (peuple) und
Gesellschaft für gleichbedeutend zu halten. Die Wissenschaft
vom State ist durch diese Verwechslung verschiedener Be-
griffe verwirrt worden und für die Statspraxis ist dieselbe
ebenso verderblich geworden.

Die deutsche Statslehre unterscheidet schärfer und sorg-
fältiger die verschiedenen Begriffe. Diese Unterscheidung be-
leuchtet die vorhandenen Gegensätze und bewahrt vor vielen
Täuschungen. Sie gibt auf der einen Seite dem State ein
festeres Fundament und eine gesicherte Wirksamkeit und
schützt die Freiheit der Gesellschaft besser gegen die Tyrannei
der Statsgewalt.

Das Volk ist ein nothwendig verbundenes Ganzes, die
Gesellschaft ist eine zufällige Verbindung von vielen Ein-
zelnen. Das Volk ist im State organisirt in Haupt und Glie-
dern, die Gesellschaft ist eine nicht organisirte Menge von
Individuen. Das Volk ist eine Rechtsperson, die Gesellschaft
hat keine Gesammtpersönlichkeit, sondern besteht nur aus
einer Masse von Privatpersonen. Dem Volke kommt Einheit
des Willens zu und die Macht, seinen Willen statlich zu ver-
wirklichen. Die Gesellschaft hat keinen Gesammtwillen und
keine ihm eigene Statsmacht. Die Gesellschaft kann weder

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze,
und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel-
mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab-
zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich
selber fähig sind?“



Fünftes Capitel.
III. Die Gesellschaft.

Die französische Statslehre ist besonders seit Rousseau
geneigt, den Stat als Gesellschaft zu betrachten, und die Be-
griffe Volk (nation) und Gesellschaft, Nation (peuple) und
Gesellschaft für gleichbedeutend zu halten. Die Wissenschaft
vom State ist durch diese Verwechslung verschiedener Be-
griffe verwirrt worden und für die Statspraxis ist dieselbe
ebenso verderblich geworden.

Die deutsche Statslehre unterscheidet schärfer und sorg-
fältiger die verschiedenen Begriffe. Diese Unterscheidung be-
leuchtet die vorhandenen Gegensätze und bewahrt vor vielen
Täuschungen. Sie gibt auf der einen Seite dem State ein
festeres Fundament und eine gesicherte Wirksamkeit und
schützt die Freiheit der Gesellschaft besser gegen die Tyrannei
der Statsgewalt.

Das Volk ist ein nothwendig verbundenes Ganzes, die
Gesellschaft ist eine zufällige Verbindung von vielen Ein-
zelnen. Das Volk ist im State organisirt in Haupt und Glie-
dern, die Gesellschaft ist eine nicht organisirte Menge von
Individuen. Das Volk ist eine Rechtsperson, die Gesellschaft
hat keine Gesammtpersönlichkeit, sondern besteht nur aus
einer Masse von Privatpersonen. Dem Volke kommt Einheit
des Willens zu und die Macht, seinen Willen statlich zu ver-
wirklichen. Die Gesellschaft hat keinen Gesammtwillen und
keine ihm eigene Statsmacht. Die Gesellschaft kann weder

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[118/0136] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze, und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel- mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab- zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich selber fähig sind?“ Fünftes Capitel. III. Die Gesellschaft. Die französische Statslehre ist besonders seit Rousseau geneigt, den Stat als Gesellschaft zu betrachten, und die Be- griffe Volk (nation) und Gesellschaft, Nation (peuple) und Gesellschaft für gleichbedeutend zu halten. Die Wissenschaft vom State ist durch diese Verwechslung verschiedener Be- griffe verwirrt worden und für die Statspraxis ist dieselbe ebenso verderblich geworden. Die deutsche Statslehre unterscheidet schärfer und sorg- fältiger die verschiedenen Begriffe. Diese Unterscheidung be- leuchtet die vorhandenen Gegensätze und bewahrt vor vielen Täuschungen. Sie gibt auf der einen Seite dem State ein festeres Fundament und eine gesicherte Wirksamkeit und schützt die Freiheit der Gesellschaft besser gegen die Tyrannei der Statsgewalt. Das Volk ist ein nothwendig verbundenes Ganzes, die Gesellschaft ist eine zufällige Verbindung von vielen Ein- zelnen. Das Volk ist im State organisirt in Haupt und Glie- dern, die Gesellschaft ist eine nicht organisirte Menge von Individuen. Das Volk ist eine Rechtsperson, die Gesellschaft hat keine Gesammtpersönlichkeit, sondern besteht nur aus einer Masse von Privatpersonen. Dem Volke kommt Einheit des Willens zu und die Macht, seinen Willen statlich zu ver- wirklichen. Die Gesellschaft hat keinen Gesammtwillen und keine ihm eigene Statsmacht. Die Gesellschaft kann weder

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/136>, abgerufen am 24.11.2024.