Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Während des Mittelalters war der Grundcharakter der Statenbildung dynastisch oder ständisch, eher noch territorial als national. In den letzten Jahrhunderten wuchsen die groszen europäischen Nationen heran, aber der Stat bekam doch nicht eine nationale Begründung noch einen nationalen Ausdruck. Vielmehr wurde damals der obrig- keitliche Stat der Fürsten und ihrer Beamten ausgebildet.
Auch die naturrechtliche Statslehre gründete ihre Anfor- derungen an den idealen Stat nicht auf die nationale Ge- meinschaft, sondern auf die menschliche Natur, ihre Bedürf- nisse und den freien Willen der Einzelmenschen. Rousseau sah in der Gesellschaft, nicht in der Nation die Grund- lage des Stats. Das "Volk", dem er die oberste Statsgewalt, die "Souveränetät" zuschreibt, ist nicht die geeinte Nation, sondern die "Gesammtheit", beziehungsweise die "Mehrheit der Bürger", die sich zu dem State willkürlich vereinigt haben, gleichviel ob sie nur einen kleinen Bruchtheil einer Nation bilden oder aus verschiedenen Nationalitäten zusammen ge- treten sind. Von denselben Grundsätzen gingen noch die französischen Verfassungen von 1791 bis 1793 (Art. 25-28), und von 1795 (Art. 17) aus. Die Ausdrücke peuple und nation wurden noch abwechselnd gebraucht, aber immer zur Bezeichnung der "Gesammtheit der Bürger" (universalite des citoyens). Die statliche Herrschaft erhielt nur einen andern Sitz. Sie wurde von dem Centrum in die Peripherie verlegt, von dem Könige auf den Demos übergetragen.
Als zu Anfang unseres Jahrhunderts Napoleon I. es unternahm, das Reich Karls des Groszen zu erneuern, und gestützt auf die französische Nation eine Universalmonar- chie über Europa aufzurichten, da stiesz er auf den Wider- stand der übrigen Nationen, welche die französische Herr- schaft mit Widerwillen und Hasz betrachteten. Trotz seines Genies ist der Kaiser, der kein Verständnisz für die Eigenart der Nationen hatte, schlieszlich dem nationalen Widerstand
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Während des Mittelalters war der Grundcharakter der Statenbildung dynastisch oder ständisch, eher noch territorial als national. In den letzten Jahrhunderten wuchsen die groszen europäischen Nationen heran, aber der Stat bekam doch nicht eine nationale Begründung noch einen nationalen Ausdruck. Vielmehr wurde damals der obrig- keitliche Stat der Fürsten und ihrer Beamten ausgebildet.
Auch die naturrechtliche Statslehre gründete ihre Anfor- derungen an den idealen Stat nicht auf die nationale Ge- meinschaft, sondern auf die menschliche Natur, ihre Bedürf- nisse und den freien Willen der Einzelmenschen. Rousseau sah in der Gesellschaft, nicht in der Nation die Grund- lage des Stats. Das „Volk“, dem er die oberste Statsgewalt, die „Souveränetät“ zuschreibt, ist nicht die geeinte Nation, sondern die „Gesammtheit“, beziehungsweise die „Mehrheit der Bürger“, die sich zu dem State willkürlich vereinigt haben, gleichviel ob sie nur einen kleinen Bruchtheil einer Nation bilden oder aus verschiedenen Nationalitäten zusammen ge- treten sind. Von denselben Grundsätzen gingen noch die französischen Verfassungen von 1791 bis 1793 (Art. 25-28), und von 1795 (Art. 17) aus. Die Ausdrücke peuple und nation wurden noch abwechselnd gebraucht, aber immer zur Bezeichnung der „Gesammtheit der Bürger“ (universalité des citoyens). Die statliche Herrschaft erhielt nur einen andern Sitz. Sie wurde von dem Centrum in die Peripherie verlegt, von dem Könige auf den Demos übergetragen.
Als zu Anfang unseres Jahrhunderts Napoleon I. es unternahm, das Reich Karls des Groszen zu erneuern, und gestützt auf die französische Nation eine Universalmonar- chie über Europa aufzurichten, da stiesz er auf den Wider- stand der übrigen Nationen, welche die französische Herr- schaft mit Widerwillen und Hasz betrachteten. Trotz seines Genies ist der Kaiser, der kein Verständnisz für die Eigenart der Nationen hatte, schlieszlich dem nationalen Widerstand
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Während des Mittelalters war der Grundcharakter der
Statenbildung dynastisch oder ständisch, eher noch
territorial als national. In den letzten Jahrhunderten
wuchsen die groszen europäischen Nationen heran, aber der
Stat bekam doch nicht eine nationale Begründung noch einen
nationalen Ausdruck. Vielmehr wurde damals der obrig-
keitliche Stat der Fürsten und ihrer Beamten ausgebildet.
Auch die naturrechtliche Statslehre gründete ihre Anfor-
derungen an den idealen Stat nicht auf die nationale Ge-
meinschaft, sondern auf die menschliche Natur, ihre Bedürf-
nisse und den freien Willen der Einzelmenschen. Rousseau
sah in der Gesellschaft, nicht in der Nation die Grund-
lage des Stats. Das „Volk“, dem er die oberste Statsgewalt,
die „Souveränetät“ zuschreibt, ist nicht die geeinte Nation,
sondern die „Gesammtheit“, beziehungsweise die
„Mehrheit
der Bürger“, die sich zu dem State willkürlich vereinigt haben,
gleichviel ob sie nur einen kleinen Bruchtheil einer Nation
bilden oder aus verschiedenen Nationalitäten zusammen ge-
treten sind. Von denselben Grundsätzen gingen noch die
französischen Verfassungen von 1791 bis 1793 (Art. 25-28),
und von 1795 (Art. 17) aus. Die Ausdrücke peuple und
nation wurden noch abwechselnd gebraucht, aber immer zur
Bezeichnung der „Gesammtheit der Bürger“ (universalité des
citoyens). Die statliche Herrschaft erhielt nur einen andern
Sitz. Sie wurde von dem Centrum in die Peripherie verlegt,
von dem Könige auf den Demos übergetragen.
Als zu Anfang unseres Jahrhunderts Napoleon I. es
unternahm, das Reich Karls des Groszen zu erneuern, und
gestützt auf die französische Nation eine Universalmonar-
chie über Europa aufzurichten, da stiesz er auf den Wider-
stand der übrigen Nationen, welche die französische Herr-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/122>, abgerufen am 25.11.2024.
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