Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
in Bengalen die Formen des englischen Gerichtsverfahrens und des englischen Rechts den dafür unreifen Indiern auf- nöthigen wollte. In den deutschen Staten aber verfuhr man gleichzeitig in der Aufrechthaltung eines wahren Wustes von hergebrachten Statutarrechten für kleine Volksparcellen über- ängstlich, und in der Einführung eines fremden gemeinen Rechtes für die Nation über die Maszen kühn und eingreifend.
Mit Bezug auf die Fortbildung des Rechts gewinnt da- her das Volk die Oberhand über die Nation und vor der Einheit des Gesetzes und der Rechtspflege müssen sich die nationalen Verschiedenheiten beugen, die Rechtsgleichheit der Statsbürger erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der nationalen Uebungen. Es ist den Römern doch sehr viel leichter geworden, die unterthänigen Nationen im Recht zu romanisiren als in der Sprache zu latinisiren, und wir neh- men keinen Anstosz daran, dasz die Franzosen ihren Code Napoleon auch auf das deutsche Elsasz und auf die alt- gallische Bretagne angewendet haben. Wir tadeln es nicht, wenn die englische Gesetzgebung auch das Recht der Iren und der Walliser gleichmäszig ordnet. Aber wir erinnern uns doch auch, dasz der Versuch der Römer, die noch rohen Germanen der römischen Rechtspflege zu unterwerfen, den groszen germanischen Freiheitskampf entzündet hat und es während Jahrhunderten ein Princip der germanischen Rechts- überzeugung war, man müsse jede Nation bei ihrem Rechte lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h. nationalen) Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig durchge- führt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen Recht zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte alle höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es war ein Glück für die Freiheit der Nationen und für die fort- schreitende Civilisation, dasz Römer und Germanen feindlich aufeinander trafen und keines der beiden Principien zu alleiniger Herrschaft gelangte.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
in Bengalen die Formen des englischen Gerichtsverfahrens und des englischen Rechts den dafür unreifen Indiern auf- nöthigen wollte. In den deutschen Staten aber verfuhr man gleichzeitig in der Aufrechthaltung eines wahren Wustes von hergebrachten Statutarrechten für kleine Volksparcellen über- ängstlich, und in der Einführung eines fremden gemeinen Rechtes für die Nation über die Maszen kühn und eingreifend.
Mit Bezug auf die Fortbildung des Rechts gewinnt da- her das Volk die Oberhand über die Nation und vor der Einheit des Gesetzes und der Rechtspflege müssen sich die nationalen Verschiedenheiten beugen, die Rechtsgleichheit der Statsbürger erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der nationalen Uebungen. Es ist den Römern doch sehr viel leichter geworden, die unterthänigen Nationen im Recht zu romanisiren als in der Sprache zu latinisiren, und wir neh- men keinen Anstosz daran, dasz die Franzosen ihren Code Napoleon auch auf das deutsche Elsasz und auf die alt- gallische Bretagne angewendet haben. Wir tadeln es nicht, wenn die englische Gesetzgebung auch das Recht der Iren und der Walliser gleichmäszig ordnet. Aber wir erinnern uns doch auch, dasz der Versuch der Römer, die noch rohen Germanen der römischen Rechtspflege zu unterwerfen, den groszen germanischen Freiheitskampf entzündet hat und es während Jahrhunderten ein Princip der germanischen Rechts- überzeugung war, man müsse jede Nation bei ihrem Rechte lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h. nationalen) Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig durchge- führt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen Recht zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte alle höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es war ein Glück für die Freiheit der Nationen und für die fort- schreitende Civilisation, dasz Römer und Germanen feindlich aufeinander trafen und keines der beiden Principien zu alleiniger Herrschaft gelangte.
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[102/0120]
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
in Bengalen die Formen des englischen Gerichtsverfahrens
und des englischen Rechts den dafür unreifen Indiern auf-
nöthigen wollte. In den deutschen Staten aber verfuhr man
gleichzeitig in der Aufrechthaltung eines wahren Wustes von
hergebrachten Statutarrechten für kleine Volksparcellen über-
ängstlich, und in der Einführung eines fremden gemeinen
Rechtes für die Nation über die Maszen kühn und eingreifend.
Mit Bezug auf die Fortbildung des Rechts gewinnt da-
her das Volk die Oberhand über die Nation und vor der
Einheit des Gesetzes und der Rechtspflege müssen sich die
nationalen Verschiedenheiten beugen, die Rechtsgleichheit der
Statsbürger erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der
nationalen Uebungen. Es ist den Römern doch sehr viel
leichter geworden, die unterthänigen Nationen im Recht zu
romanisiren als in der Sprache zu latinisiren, und wir neh-
men keinen Anstosz daran, dasz die Franzosen ihren Code
Napoleon auch auf das deutsche Elsasz und auf die alt-
gallische Bretagne angewendet haben. Wir tadeln es nicht,
wenn die englische Gesetzgebung auch das Recht der Iren
und der Walliser gleichmäszig ordnet. Aber wir erinnern uns
doch auch, dasz der Versuch der Römer, die noch rohen
Germanen der römischen Rechtspflege zu unterwerfen, den
groszen germanischen Freiheitskampf entzündet hat und es
während Jahrhunderten ein Princip der germanischen Rechts-
überzeugung war, man müsse jede Nation bei ihrem Rechte
lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h. nationalen)
Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig durchge-
führt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen Recht
zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte alle
höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es war
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/120>, abgerufen am 25.11.2024.
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