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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und
gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern,
fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent-
gegen zu setzen.

Die wichtigsten Motive sind:

a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich
in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in
Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise
der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als
Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen.
Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari-
schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein-
ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und
die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache
und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander
fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation
ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina,
sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im
Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer-
störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde
Nationen und Staten.

Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die
religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz
heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu-
bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist
sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität,
abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse
Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio-
nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum,
ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau-
ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von
fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen
dieser sind.

b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der

Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und
gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern,
fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent-
gegen zu setzen.

Die wichtigsten Motive sind:

a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich
in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in
Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise
der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als
Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen.
Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari-
schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein-
ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und
die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache
und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander
fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation
ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina,
sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im
Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer-
störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde
Nationen und Staten.

Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die
religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz
heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu-
bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist
sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität,
abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse
Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio-
nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum,
ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau-
ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von
fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen
dieser sind.

b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der

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[93/0111] Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk. Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern, fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent- gegen zu setzen. Die wichtigsten Motive sind: a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen. Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari- schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein- ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina, sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer- störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde Nationen und Staten. Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu- bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität, abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio- nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum, ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau- ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen dieser sind. b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/111>, abgerufen am 24.11.2024.