Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
wie manche Schriften seiner Schüler zeigen, die Gefahr in
sich birgt, die politische Entwicklung durch formale Abstrac-
tionen eher zu hemmen als zu fördern.

Im Gegensatze dazu versucht es die psychologische
Betrachtung des States, das Statsleben aus den Formen und
den Kräften des menschlichen Geistes gründlicher zu erklären.
Die damit verbundene Gefahr ist die entgegengesetzte, näm-
lich dasz der feste und gesicherte Rechtsboden von der Be-
wegung der Politik nicht hinreichend beachtet, sondern er-
schüttert und umgebildet würde.

Zu der neuen Richtung paszte die vergleichende
Methode vortrefflich, welche die wichtigsten Staten neben
einander betrachtete und darstellte. Die meisten der ge-
nannten Schriftsteller haben dieselbe mit Erfolg geübt. Für
die allgemeine Statslehre ist dieselbe unentbehrlich.

Endlich muszte in dem Zeitalter nationaler Statenbildung,
in welchem wir leben, die Statslehre entschiedener als früher
den nationalen Charakter des Stats betonen. Welcker
in Freiburg, Franz Lieber in New-York, Fr. Laurent in
Gent, Bluntschli in Zürich und München hatten diese
Richtung schon vor den nationalen Einigungsversuchen der
Italiener und der Deutschen in der Wissenschaft eingeschlagen.
Mit besonderem Nachdruck -- anfangs nicht ohne einseitige
Leidenschaft -- wurde die nationale Begründung des Stats
von der neu erstandenen, jugendlich-frischen Statswissenschaft
der Italiener vertreten, unter denen Mancini und Padeletti
in Rom, und Pierantoni in Neapel hervorragen. Auch die
Italiener wie die Deutschen verbinden fortwährend die histo-
rische und die philosophische Methode in ihren Arbeiten.

Anmerkung. Das Verständnisz des organischen oder höher
ausgedrückt des psychologisch-menschlichen Wesens des States
ist noch immer gering. Wie es Menschen, zuweilen gebildete Menschen
gibt, die kein musikalisches Gehör haben oder für die Schönheit eines
Gemäldes oder einer Zeichnung durchaus unempfindlich sind, so gibt es
auch unter den Gelehrten viele, welchen organisches oder psychologisches

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
wie manche Schriften seiner Schüler zeigen, die Gefahr in
sich birgt, die politische Entwicklung durch formale Abstrac-
tionen eher zu hemmen als zu fördern.

Im Gegensatze dazu versucht es die psychologische
Betrachtung des States, das Statsleben aus den Formen und
den Kräften des menschlichen Geistes gründlicher zu erklären.
Die damit verbundene Gefahr ist die entgegengesetzte, näm-
lich dasz der feste und gesicherte Rechtsboden von der Be-
wegung der Politik nicht hinreichend beachtet, sondern er-
schüttert und umgebildet würde.

Zu der neuen Richtung paszte die vergleichende
Methode vortrefflich, welche die wichtigsten Staten neben
einander betrachtete und darstellte. Die meisten der ge-
nannten Schriftsteller haben dieselbe mit Erfolg geübt. Für
die allgemeine Statslehre ist dieselbe unentbehrlich.

Endlich muszte in dem Zeitalter nationaler Statenbildung,
in welchem wir leben, die Statslehre entschiedener als früher
den nationalen Charakter des Stats betonen. Welcker
in Freiburg, Franz Lieber in New-York, Fr. Laurent in
Gent, Bluntschli in Zürich und München hatten diese
Richtung schon vor den nationalen Einigungsversuchen der
Italiener und der Deutschen in der Wissenschaft eingeschlagen.
Mit besonderem Nachdruck — anfangs nicht ohne einseitige
Leidenschaft — wurde die nationale Begründung des Stats
von der neu erstandenen, jugendlich-frischen Statswissenschaft
der Italiener vertreten, unter denen Mancini und Padeletti
in Rom, und Pierantoni in Neapel hervorragen. Auch die
Italiener wie die Deutschen verbinden fortwährend die histo-
rische und die philosophische Methode in ihren Arbeiten.

Anmerkung. Das Verständnisz des organischen oder höher
ausgedrückt des psychologisch-menschlichen Wesens des States
ist noch immer gering. Wie es Menschen, zuweilen gebildete Menschen
gibt, die kein musikalisches Gehör haben oder für die Schönheit eines
Gemäldes oder einer Zeichnung durchaus unempfindlich sind, so gibt es
auch unter den Gelehrten viele, welchen organisches oder psychologisches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0100" n="82"/><fw place="top" type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
wie manche Schriften seiner Schüler zeigen, die Gefahr in<lb/>
sich birgt, die politische Entwicklung durch formale Abstrac-<lb/>
tionen eher zu hemmen als zu fördern.</p><lb/>
          <p>Im Gegensatze dazu versucht es die <hi rendition="#g">psychologische</hi><lb/>
Betrachtung des States, das Statsleben aus den Formen und<lb/>
den Kräften des menschlichen Geistes gründlicher zu erklären.<lb/>
Die damit verbundene Gefahr ist die entgegengesetzte, näm-<lb/>
lich dasz der feste und gesicherte Rechtsboden von der Be-<lb/>
wegung der Politik nicht hinreichend beachtet, sondern er-<lb/>
schüttert und umgebildet würde.</p><lb/>
          <p>Zu der neuen Richtung paszte die <hi rendition="#g">vergleichende</hi><lb/>
Methode vortrefflich, welche die wichtigsten Staten neben<lb/>
einander betrachtete und darstellte. Die meisten der ge-<lb/>
nannten Schriftsteller haben dieselbe mit Erfolg geübt. Für<lb/>
die allgemeine Statslehre ist dieselbe unentbehrlich.</p><lb/>
          <p>Endlich muszte in dem Zeitalter nationaler Statenbildung,<lb/>
in welchem wir leben, die Statslehre entschiedener als früher<lb/>
den <hi rendition="#g">nationalen</hi> Charakter des Stats betonen. <hi rendition="#g">Welcker</hi><lb/>
in Freiburg, <hi rendition="#g">Franz Lieber</hi> in New-York, Fr. <hi rendition="#g">Laurent</hi> in<lb/>
Gent, <hi rendition="#g">Bluntschli</hi> in Zürich und München hatten diese<lb/>
Richtung schon vor den nationalen Einigungsversuchen der<lb/>
Italiener und der Deutschen in der Wissenschaft eingeschlagen.<lb/>
Mit besonderem Nachdruck &#x2014; anfangs nicht ohne einseitige<lb/>
Leidenschaft &#x2014; wurde die nationale Begründung des Stats<lb/>
von der neu erstandenen, jugendlich-frischen Statswissenschaft<lb/>
der Italiener vertreten, unter denen <hi rendition="#g">Mancini</hi> und <hi rendition="#g">Padeletti</hi><lb/>
in Rom, und <hi rendition="#g">Pierantoni</hi> in Neapel hervorragen. Auch die<lb/>
Italiener wie die Deutschen verbinden fortwährend die histo-<lb/>
rische und die philosophische Methode in ihren Arbeiten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Das Verständnisz des <hi rendition="#g">organischen</hi> oder höher<lb/>
ausgedrückt des <hi rendition="#g">psychologisch-menschlichen</hi> Wesens des States<lb/>
ist noch immer gering. Wie es Menschen, zuweilen gebildete Menschen<lb/>
gibt, die kein musikalisches Gehör haben oder für die Schönheit eines<lb/>
Gemäldes oder einer Zeichnung durchaus unempfindlich sind, so gibt es<lb/>
auch unter den Gelehrten viele, welchen organisches oder psychologisches<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0100] Erstes Buch. Der Statsbegriff. wie manche Schriften seiner Schüler zeigen, die Gefahr in sich birgt, die politische Entwicklung durch formale Abstrac- tionen eher zu hemmen als zu fördern. Im Gegensatze dazu versucht es die psychologische Betrachtung des States, das Statsleben aus den Formen und den Kräften des menschlichen Geistes gründlicher zu erklären. Die damit verbundene Gefahr ist die entgegengesetzte, näm- lich dasz der feste und gesicherte Rechtsboden von der Be- wegung der Politik nicht hinreichend beachtet, sondern er- schüttert und umgebildet würde. Zu der neuen Richtung paszte die vergleichende Methode vortrefflich, welche die wichtigsten Staten neben einander betrachtete und darstellte. Die meisten der ge- nannten Schriftsteller haben dieselbe mit Erfolg geübt. Für die allgemeine Statslehre ist dieselbe unentbehrlich. Endlich muszte in dem Zeitalter nationaler Statenbildung, in welchem wir leben, die Statslehre entschiedener als früher den nationalen Charakter des Stats betonen. Welcker in Freiburg, Franz Lieber in New-York, Fr. Laurent in Gent, Bluntschli in Zürich und München hatten diese Richtung schon vor den nationalen Einigungsversuchen der Italiener und der Deutschen in der Wissenschaft eingeschlagen. Mit besonderem Nachdruck — anfangs nicht ohne einseitige Leidenschaft — wurde die nationale Begründung des Stats von der neu erstandenen, jugendlich-frischen Statswissenschaft der Italiener vertreten, unter denen Mancini und Padeletti in Rom, und Pierantoni in Neapel hervorragen. Auch die Italiener wie die Deutschen verbinden fortwährend die histo- rische und die philosophische Methode in ihren Arbeiten. Anmerkung. Das Verständnisz des organischen oder höher ausgedrückt des psychologisch-menschlichen Wesens des States ist noch immer gering. Wie es Menschen, zuweilen gebildete Menschen gibt, die kein musikalisches Gehör haben oder für die Schönheit eines Gemäldes oder einer Zeichnung durchaus unempfindlich sind, so gibt es auch unter den Gelehrten viele, welchen organisches oder psychologisches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/100
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/100>, abgerufen am 24.11.2024.