Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Säugthieren sich unterscheide, so entsteht freylich die
doppelte Frage:

1) ob er dem Menschen wirklich mangele, und
2) ob er in allen übrigen Säugthieren sich findet?

Das erste hat vor drittehalb Jahrhunderten den
Anatomikern der damaligen Zeit Stoff zu einem sehr
heftigen Streite gegeben. Denn da Galenus die
ebenbenannte Nath des Zwischenkinnladenbeins zu
den übrigen des Hirnschädels rechnet, so bediente
sich Vesalius nach so viel andern Zeugnissen auch die-
ses, zu beweisen, daß er sein, so lange für ein Ka-
non gehaltenes osteologisches Handbuch nicht nach
dem menschlichen, sondern nach dem Skelett des
Affen verfertigt habe. Nach den vergeblichen Ver-
suchen des Jak. Sylvius aber, durch elende Vorwän-
de seinen Galen zu retten 22), hielt man diese ganze
Untersuchung für so vollkommen beendigt, daß der
neuerliche Versuch des berühmten Vicq d'Azyr, die
Analogie zwischen der Einrichtung des Menschen und
der Thiere, in Ansehung des Zwischenkinnladenbeins,
zu beweisen, in der That wider alles Vermuthen und
alle Erwartung war 23). Denn die einzige Spur
einer Aehnlichkeit, worauf diese Analogie sich grün-

det,
22) Er quält sich dergestalt mit der Rettung seines
göttlichen Galenus, daß er endlich auch zu der Ent-
schuldigung sich herabläßt, daß die Menschen, wiewohl
sie jetzo keine Zwischenkinnladenbeine mehr hätten,
doch zu Galens Zeiten allerdings dieselben gehabt
haben, und daß man deshalb den Fürsten der Anato-
miker nicht anzuklagen habe, -- "sondern einige
Verhinderungen der Natur, welche in un-
sern Zeiten die Folgen der Leckerey und
einer unzeitigen und über mäßigen Liebe
gewesen wären."
23) S. Memoires de l' academie des sciences de Paris.
1780.

Saͤugthieren ſich unterſcheide, ſo entſteht freylich die
doppelte Frage:

1) ob er dem Menſchen wirklich mangele, und
2) ob er in allen uͤbrigen Saͤugthieren ſich findet?

Das erſte hat vor drittehalb Jahrhunderten den
Anatomikern der damaligen Zeit Stoff zu einem ſehr
heftigen Streite gegeben. Denn da Galenus die
ebenbenannte Nath des Zwiſchenkinnladenbeins zu
den uͤbrigen des Hirnſchaͤdels rechnet, ſo bediente
ſich Veſalius nach ſo viel andern Zeugniſſen auch die-
ſes, zu beweiſen, daß er ſein, ſo lange fuͤr ein Ka-
non gehaltenes oſteologiſches Handbuch nicht nach
dem menſchlichen, ſondern nach dem Skelett des
Affen verfertigt habe. Nach den vergeblichen Ver-
ſuchen des Jak. Sylvius aber, durch elende Vorwaͤn-
de ſeinen Galen zu retten 22), hielt man dieſe ganze
Unterſuchung fuͤr ſo vollkommen beendigt, daß der
neuerliche Verſuch des beruͤhmten Vicq d’Azyr, die
Analogie zwiſchen der Einrichtung des Menſchen und
der Thiere, in Anſehung des Zwiſchenkinnladenbeins,
zu beweiſen, in der That wider alles Vermuthen und
alle Erwartung war 23). Denn die einzige Spur
einer Aehnlichkeit, worauf dieſe Analogie ſich gruͤn-

det,
22) Er quaͤlt ſich dergeſtalt mit der Rettung ſeines
goͤttlichen Galenus, daß er endlich auch zu der Ent-
ſchuldigung ſich herablaͤßt, daß die Menſchen, wiewohl
ſie jetzo keine Zwiſchenkinnladenbeine mehr haͤtten,
doch zu Galens Zeiten allerdings dieſelben gehabt
haben, und daß man deshalb den Fuͤrſten der Anato-
miker nicht anzuklagen habe, — „ſondern einige
Verhinderungen der Natur, welche in un-
ſern Zeiten die Folgen der Leckerey und
einer unzeitigen und uͤber maͤßigen Liebe
geweſen waͤren.“
23) S. Memoires de l’ academie des ſciences de Paris.
1780.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0073" n="39"/>
Sa&#x0364;ugthieren &#x017F;ich unter&#x017F;cheide, &#x017F;o ent&#x017F;teht freylich die<lb/>
doppelte Frage:</p><lb/>
          <list>
            <item>1) ob er dem Men&#x017F;chen wirklich mangele, und</item><lb/>
            <item>2) ob er in allen u&#x0364;brigen Sa&#x0364;ugthieren &#x017F;ich findet?</item>
          </list><lb/>
          <p>Das er&#x017F;te hat vor drittehalb Jahrhunderten den<lb/>
Anatomikern der damaligen Zeit Stoff zu einem &#x017F;ehr<lb/>
heftigen Streite gegeben. Denn da Galenus die<lb/>
ebenbenannte Nath des Zwi&#x017F;chenkinnladenbeins zu<lb/>
den u&#x0364;brigen des Hirn&#x017F;cha&#x0364;dels rechnet, &#x017F;o bediente<lb/>
&#x017F;ich Ve&#x017F;alius nach &#x017F;o viel andern Zeugni&#x017F;&#x017F;en auch die-<lb/>
&#x017F;es, zu bewei&#x017F;en, daß er &#x017F;ein, &#x017F;o lange fu&#x0364;r ein Ka-<lb/>
non gehaltenes o&#x017F;teologi&#x017F;ches Handbuch nicht nach<lb/>
dem men&#x017F;chlichen, &#x017F;ondern nach dem Skelett des<lb/>
Affen verfertigt habe. Nach den vergeblichen Ver-<lb/>
&#x017F;uchen des Jak. Sylvius aber, durch elende Vorwa&#x0364;n-<lb/>
de &#x017F;einen Galen zu retten <note place="foot" n="22)">Er qua&#x0364;lt &#x017F;ich derge&#x017F;talt mit der Rettung &#x017F;eines<lb/>
go&#x0364;ttlichen Galenus, daß er endlich auch zu <hi rendition="#g">der</hi> Ent-<lb/>
&#x017F;chuldigung &#x017F;ich herabla&#x0364;ßt, daß die Men&#x017F;chen, wiewohl<lb/>
&#x017F;ie <hi rendition="#g">jetzo</hi> keine Zwi&#x017F;chenkinnladenbeine mehr ha&#x0364;tten,<lb/>
doch zu Galens Zeiten allerdings die&#x017F;elben gehabt<lb/>
haben, und daß man deshalb den Fu&#x0364;r&#x017F;ten der Anato-<lb/>
miker nicht anzuklagen habe, &#x2014; <hi rendition="#g">&#x201E;&#x017F;ondern einige<lb/>
Verhinderungen der Natur, welche in un-<lb/>
&#x017F;ern Zeiten die Folgen der Leckerey und<lb/>
einer unzeitigen und u&#x0364;ber ma&#x0364;ßigen Liebe<lb/>
gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren.&#x201C;</hi></note>, hielt man die&#x017F;e ganze<lb/>
Unter&#x017F;uchung fu&#x0364;r &#x017F;o vollkommen beendigt, daß der<lb/>
neuerliche Ver&#x017F;uch des beru&#x0364;hmten Vicq d&#x2019;Azyr, die<lb/>
Analogie zwi&#x017F;chen der Einrichtung des Men&#x017F;chen und<lb/>
der Thiere, in An&#x017F;ehung des Zwi&#x017F;chenkinnladenbeins,<lb/>
zu bewei&#x017F;en, in der That wider alles Vermuthen und<lb/>
alle Erwartung war <note place="foot" n="23)">S. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Memoires de l&#x2019; academie des &#x017F;ciences de Paris.</hi></hi><lb/>
1780.</note>. Denn die einzige Spur<lb/>
einer Aehnlichkeit, worauf die&#x017F;e Analogie &#x017F;ich gru&#x0364;n-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">det,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0073] Saͤugthieren ſich unterſcheide, ſo entſteht freylich die doppelte Frage: 1) ob er dem Menſchen wirklich mangele, und 2) ob er in allen uͤbrigen Saͤugthieren ſich findet? Das erſte hat vor drittehalb Jahrhunderten den Anatomikern der damaligen Zeit Stoff zu einem ſehr heftigen Streite gegeben. Denn da Galenus die ebenbenannte Nath des Zwiſchenkinnladenbeins zu den uͤbrigen des Hirnſchaͤdels rechnet, ſo bediente ſich Veſalius nach ſo viel andern Zeugniſſen auch die- ſes, zu beweiſen, daß er ſein, ſo lange fuͤr ein Ka- non gehaltenes oſteologiſches Handbuch nicht nach dem menſchlichen, ſondern nach dem Skelett des Affen verfertigt habe. Nach den vergeblichen Ver- ſuchen des Jak. Sylvius aber, durch elende Vorwaͤn- de ſeinen Galen zu retten 22), hielt man dieſe ganze Unterſuchung fuͤr ſo vollkommen beendigt, daß der neuerliche Verſuch des beruͤhmten Vicq d’Azyr, die Analogie zwiſchen der Einrichtung des Menſchen und der Thiere, in Anſehung des Zwiſchenkinnladenbeins, zu beweiſen, in der That wider alles Vermuthen und alle Erwartung war 23). Denn die einzige Spur einer Aehnlichkeit, worauf dieſe Analogie ſich gruͤn- det, 22) Er quaͤlt ſich dergeſtalt mit der Rettung ſeines goͤttlichen Galenus, daß er endlich auch zu der Ent- ſchuldigung ſich herablaͤßt, daß die Menſchen, wiewohl ſie jetzo keine Zwiſchenkinnladenbeine mehr haͤtten, doch zu Galens Zeiten allerdings dieſelben gehabt haben, und daß man deshalb den Fuͤrſten der Anato- miker nicht anzuklagen habe, — „ſondern einige Verhinderungen der Natur, welche in un- ſern Zeiten die Folgen der Leckerey und einer unzeitigen und uͤber maͤßigen Liebe geweſen waͤren.“ 23) S. Memoires de l’ academie des ſciences de Paris. 1780.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

"Über die natürlichen Verschiedenheiten im Mensch… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht_1798/73
Zitationshilfe: Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht_1798/73>, abgerufen am 22.11.2024.