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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Das allgemeine Wahlrecht und sein Gegengewicht.
Die Einflüsse und Abhängigkeiten, die das praktische Leben der
Menschen mit sich bringt, sind gottgegebene Realitäten, die man nicht
ignoriren kann und soll. Wenn man es ablehnt, sie auf das
politische Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an
die geheime Einsicht Aller zum Grunde legt, so geräth man in
einen Widerspruch des Staatsrechts mit den Realitäten des mensch¬
lichen Lebens, der praktisch zu stehenden Frictionen und schließlich
zu Explosionen führt und theoretisch nur auf dem Wege social¬
demokratischer Verrücktheiten lösbar ist, deren Anklang auf der
Thatsache beruht, daß die Einsicht großer Massen hinreichend stumpf
und unentwickelt ist, um sich von der Rhetorik geschickter und ehr¬
geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit stets einfangen
zu lassen.

Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einflusse der Ge¬
bildeten, der sich stärker geltend machen würde, wenn die Wahl
öffentlich wäre1), wie für den preußischen Landtag. Die größere
Besonnenheit der intelligenteren Classen mag immerhin den mate¬
riellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andre
des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt, aber für
die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Uebergewicht
derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatswesen,
dessen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum
rerum cupidi,
und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils¬
lose Massen zu belügen, in höherm Maße wie Andre besitzen,
wird stets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt sein, der
so gewichtige Massen, wie staatliche Gemeinwesen sind, nicht folgen
können, ohne in ihrem Organismus geschädigt zu werden. Schwere
Massen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent¬
wicklung gehören, können sich nur mit Vorsicht bewegen, da die

1) Die geheime Abstimmung wurde bekanntlich erst durch den Antrag
Fries in das Gesetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche
Abstimmung forderte.

Das allgemeine Wahlrecht und ſein Gegengewicht.
Die Einflüſſe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der
Menſchen mit ſich bringt, ſind gottgegebene Realitäten, die man nicht
ignoriren kann und ſoll. Wenn man es ablehnt, ſie auf das
politiſche Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an
die geheime Einſicht Aller zum Grunde legt, ſo geräth man in
einen Widerſpruch des Staatsrechts mit den Realitäten des menſch¬
lichen Lebens, der praktiſch zu ſtehenden Frictionen und ſchließlich
zu Exploſionen führt und theoretiſch nur auf dem Wege ſocial¬
demokratiſcher Verrücktheiten lösbar iſt, deren Anklang auf der
Thatſache beruht, daß die Einſicht großer Maſſen hinreichend ſtumpf
und unentwickelt iſt, um ſich von der Rhetorik geſchickter und ehr¬
geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit ſtets einfangen
zu laſſen.

Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einfluſſe der Ge¬
bildeten, der ſich ſtärker geltend machen würde, wenn die Wahl
öffentlich wäre1), wie für den preußiſchen Landtag. Die größere
Beſonnenheit der intelligenteren Claſſen mag immerhin den mate¬
riellen Untergrund der Erhaltung des Beſitzes haben; der andre
des Strebens nach Erwerb iſt nicht weniger berechtigt, aber für
die Sicherheit und Fortbildung des Staates iſt das Uebergewicht
derer, die den Beſitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatsweſen,
deſſen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum
rerum cupidi,
und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils¬
loſe Maſſen zu belügen, in höherm Maße wie Andre beſitzen,
wird ſtets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt ſein, der
ſo gewichtige Maſſen, wie ſtaatliche Gemeinweſen ſind, nicht folgen
können, ohne in ihrem Organismus geſchädigt zu werden. Schwere
Maſſen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent¬
wicklung gehören, können ſich nur mit Vorſicht bewegen, da die

1) Die geheime Abſtimmung wurde bekanntlich erſt durch den Antrag
Fries in das Geſetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche
Abſtimmung forderte.
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[59/0083] Das allgemeine Wahlrecht und ſein Gegengewicht. Die Einflüſſe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der Menſchen mit ſich bringt, ſind gottgegebene Realitäten, die man nicht ignoriren kann und ſoll. Wenn man es ablehnt, ſie auf das politiſche Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an die geheime Einſicht Aller zum Grunde legt, ſo geräth man in einen Widerſpruch des Staatsrechts mit den Realitäten des menſch¬ lichen Lebens, der praktiſch zu ſtehenden Frictionen und ſchließlich zu Exploſionen führt und theoretiſch nur auf dem Wege ſocial¬ demokratiſcher Verrücktheiten lösbar iſt, deren Anklang auf der Thatſache beruht, daß die Einſicht großer Maſſen hinreichend ſtumpf und unentwickelt iſt, um ſich von der Rhetorik geſchickter und ehr¬ geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit ſtets einfangen zu laſſen. Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einfluſſe der Ge¬ bildeten, der ſich ſtärker geltend machen würde, wenn die Wahl öffentlich wäre 1), wie für den preußiſchen Landtag. Die größere Beſonnenheit der intelligenteren Claſſen mag immerhin den mate¬ riellen Untergrund der Erhaltung des Beſitzes haben; der andre des Strebens nach Erwerb iſt nicht weniger berechtigt, aber für die Sicherheit und Fortbildung des Staates iſt das Uebergewicht derer, die den Beſitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatsweſen, deſſen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum rerum cupidi, und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils¬ loſe Maſſen zu belügen, in höherm Maße wie Andre beſitzen, wird ſtets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt ſein, der ſo gewichtige Maſſen, wie ſtaatliche Gemeinweſen ſind, nicht folgen können, ohne in ihrem Organismus geſchädigt zu werden. Schwere Maſſen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent¬ wicklung gehören, können ſich nur mit Vorſicht bewegen, da die 1) Die geheime Abſtimmung wurde bekanntlich erſt durch den Antrag Fries in das Geſetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche Abſtimmung forderte.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/83>, abgerufen am 25.11.2024.