Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund. Glieder sich dann des französischen Schutzes um so bedürftigerfühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiscenzen und wollte die Entwicklung in der Richtung eines Gesammt-Deutschlands hindern. Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des Tages nicht kannte und die Situation nach seinen süddeutschen Schulerinnerungen und nach diplomatischen Berichten beurtheilte, die nur auf ministerielle und sporadisch dynastische Stimmungen gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht schwinden würde; ich nahm an, daß ein Gesammt-Deutschland nur eine Frage der Zeit, und daß zu deren Lösung der Norddeutsche Bund die erste Etappe sei, daß aber die Feindschaft Frankreichs und vielleicht Ru߬ lands, das Revanchebedürfniß Oestreichs für 1866 und der preußisch- dynastische Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutsch- französischer Krieg werde geführt werden müssen, bevor die Gesammt- Einrichtung Deutschlands sich verwirklichte. Diesen Krieg hinauszu¬ schieben, bis unsre Streitkräfte durch Anwendung der preußischen Wehrgesetzgebung nicht blos auf Hanover, Hessen und Holstein, son¬ dern, wie ich damals schon nach der Fühlung mit den Süddeutschen hoffen durfte, auch auf diese, gestärkt wären, war ein Gedanke, der mich damals beherrschte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im Hinblick auf die Erfolge der Franzosen im Krimkriege und in Italien für eine Gefahr, die ich damals überschätzte, indem mir die für Frank¬ reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organisation und das Geschick in der Führung als höher und besser vorschwebten, als sich 1870 bestätigt hat. Die Tapferkeit des französischen Troupiers und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit haben sich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich sie für die Even¬ tualität einer deutschen Invasion in Frankreich eingeschätzt hatte, in Erinnerung an die Erlebnisse von 1814, 1792, und zu Anfang des vorigen Jahrhunderts im spanischen Erbfolgekriege, wo das Ein¬ dringen fremder Heere stets ähnliche Erscheinungen wie das Stö¬ kern in einem Ameisenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund. Glieder ſich dann des franzöſiſchen Schutzes um ſo bedürftigerfühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiſcenzen und wollte die Entwicklung in der Richtung eines Geſammt-Deutſchlands hindern. Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des Tages nicht kannte und die Situation nach ſeinen ſüddeutſchen Schulerinnerungen und nach diplomatiſchen Berichten beurtheilte, die nur auf miniſterielle und ſporadiſch dynaſtiſche Stimmungen gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht ſchwinden würde; ich nahm an, daß ein Geſammt-Deutſchland nur eine Frage der Zeit, und daß zu deren Löſung der Norddeutſche Bund die erſte Etappe ſei, daß aber die Feindſchaft Frankreichs und vielleicht Ru߬ lands, das Revanchebedürfniß Oeſtreichs für 1866 und der preußiſch- dynaſtiſche Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutſch- franzöſiſcher Krieg werde geführt werden müſſen, bevor die Geſammt- Einrichtung Deutſchlands ſich verwirklichte. Dieſen Krieg hinauszu¬ ſchieben, bis unſre Streitkräfte durch Anwendung der preußiſchen Wehrgeſetzgebung nicht blos auf Hanover, Heſſen und Holſtein, ſon¬ dern, wie ich damals ſchon nach der Fühlung mit den Süddeutſchen hoffen durfte, auch auf dieſe, geſtärkt wären, war ein Gedanke, der mich damals beherrſchte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im Hinblick auf die Erfolge der Franzoſen im Krimkriege und in Italien für eine Gefahr, die ich damals überſchätzte, indem mir die für Frank¬ reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organiſation und das Geſchick in der Führung als höher und beſſer vorſchwebten, als ſich 1870 beſtätigt hat. Die Tapferkeit des franzöſiſchen Troupiers und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit haben ſich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich ſie für die Even¬ tualität einer deutſchen Invaſion in Frankreich eingeſchätzt hatte, in Erinnerung an die Erlebniſſe von 1814, 1792, und zu Anfang des vorigen Jahrhunderts im ſpaniſchen Erbfolgekriege, wo das Ein¬ dringen fremder Heere ſtets ähnliche Erſcheinungen wie das Stö¬ kern in einem Ameiſenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0076" n="52"/><fw place="top" type="header">Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.<lb/></fw>Glieder ſich dann des franzöſiſchen Schutzes um ſo bedürftiger<lb/> fühlen würden. 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Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Glieder ſich dann des franzöſiſchen Schutzes um ſo bedürftiger
fühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiſcenzen und wollte die
Entwicklung in der Richtung eines Geſammt-Deutſchlands hindern.
Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des
Tages nicht kannte und die Situation nach ſeinen ſüddeutſchen
Schulerinnerungen und nach diplomatiſchen Berichten beurtheilte,
die nur auf miniſterielle und ſporadiſch dynaſtiſche Stimmungen
gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht ſchwinden
würde; ich nahm an, daß ein Geſammt-Deutſchland nur eine Frage
der Zeit, und daß zu deren Löſung der Norddeutſche Bund die erſte
Etappe ſei, daß aber die Feindſchaft Frankreichs und vielleicht Ru߬
lands, das Revanchebedürfniß Oeſtreichs für 1866 und der preußiſch-
dynaſtiſche Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken
gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutſch-
franzöſiſcher Krieg werde geführt werden müſſen, bevor die Geſammt-
Einrichtung Deutſchlands ſich verwirklichte. Dieſen Krieg hinauszu¬
ſchieben, bis unſre Streitkräfte durch Anwendung der preußiſchen
Wehrgeſetzgebung nicht blos auf Hanover, Heſſen und Holſtein, ſon¬
dern, wie ich damals ſchon nach der Fühlung mit den Süddeutſchen
hoffen durfte, auch auf dieſe, geſtärkt wären, war ein Gedanke, der
mich damals beherrſchte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im
Hinblick auf die Erfolge der Franzoſen im Krimkriege und in Italien
für eine Gefahr, die ich damals überſchätzte, indem mir die für Frank¬
reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organiſation
und das Geſchick in der Führung als höher und beſſer vorſchwebten,
als ſich 1870 beſtätigt hat. Die Tapferkeit des franzöſiſchen Troupiers
und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit
haben ſich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich ſie für die Even¬
tualität einer deutſchen Invaſion in Frankreich eingeſchätzt hatte, in
Erinnerung an die Erlebniſſe von 1814, 1792, und zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts im ſpaniſchen Erbfolgekriege, wo das Ein¬
dringen fremder Heere ſtets ähnliche Erſcheinungen wie das Stö¬
kern in einem Ameiſenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe
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