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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Zwanzigstes Kapitel: Nikolsburg.
Berathungen, die anfangs regelmäßig, später in größern Abständen
Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war.
An jenem Tage handelte es sich um die Richtung des weitern
Vorgehns gegen Wien; ich war verspätet zur Besprechung er¬
schienen, und der König orientirte mich, daß es sich darum handle,
die Befestigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um
nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beschaffenheit der
Werke schweres Geschütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müsse*)
und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich sei.
Nachdem Bresche gelegt, sollten die Werke gestürmt werden, wofür
ein muthmaßlicher Verlust von 2000 Mann veranschlagt wurde.
Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erster
Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne
die Gefahr mindestens der französischen Einmischung sehr viel
näher zu rücken, als sie ohnehin lag**). Ich machte meine Besorgniß
geltend und sagte: "Vierzehn Tage abwartender Pause können wir nicht
verlieren, ohne das Schwergewicht des französischen Arbitriums ge¬
fährlich zu verstärken." Ich stellte die Frage, ob wir überhaupt die
Floridsdorfer Befestigungen stürmen müßten, ob wir sie nicht um¬
gehn könnten. Mit einer Viertelschwenkung links könnte die Richtung
auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe
überschritten werden. Entweder würden die Oestreicher dann
den Kampf in ungünstiger Lage mit Front nach Osten südlich der
Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann sei
Wien ohne Schwertstreich zu nehmen. Der König ließ sich eine

*) In dem Werke des Generalstabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli:
"Nach Dresden wurde an den Obersten Mertens telegraphirt, 50 dorthin
dirigirte [also wohl noch nicht eingetroffene] schwere Geschütze so bereit zu halten,
daß sie, sobald es befohlen würde, ohne Zeitverlust auf der Eisenbahn abge¬
sandt werden könnten. Die Eisenbahn jenseits Lundenburg war zerstört; der
General von Hindersin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen
Park von Transportmitteln zusammen zu bringen."
**) Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris.

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
Berathungen, die anfangs regelmäßig, ſpäter in größern Abſtänden
Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war.
An jenem Tage handelte es ſich um die Richtung des weitern
Vorgehns gegen Wien; ich war verſpätet zur Beſprechung er¬
ſchienen, und der König orientirte mich, daß es ſich darum handle,
die Befeſtigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um
nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beſchaffenheit der
Werke ſchweres Geſchütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müſſe*)
und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich ſei.
Nachdem Breſche gelegt, ſollten die Werke geſtürmt werden, wofür
ein muthmaßlicher Verluſt von 2000 Mann veranſchlagt wurde.
Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erſter
Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne
die Gefahr mindeſtens der franzöſiſchen Einmiſchung ſehr viel
näher zu rücken, als ſie ohnehin lag**). Ich machte meine Beſorgniß
geltend und ſagte: „Vierzehn Tage abwartender Pauſe können wir nicht
verlieren, ohne das Schwergewicht des franzöſiſchen Arbitriums ge¬
fährlich zu verſtärken.“ Ich ſtellte die Frage, ob wir überhaupt die
Floridsdorfer Befeſtigungen ſtürmen müßten, ob wir ſie nicht um¬
gehn könnten. Mit einer Viertelſchwenkung links könnte die Richtung
auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe
überſchritten werden. Entweder würden die Oeſtreicher dann
den Kampf in ungünſtiger Lage mit Front nach Oſten ſüdlich der
Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann ſei
Wien ohne Schwertſtreich zu nehmen. Der König ließ ſich eine

*) In dem Werke des Generalſtabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli:
„Nach Dresden wurde an den Oberſten Mertens telegraphirt, 50 dorthin
dirigirte [alſo wohl noch nicht eingetroffene] ſchwere Geſchütze ſo bereit zu halten,
daß ſie, ſobald es befohlen würde, ohne Zeitverluſt auf der Eiſenbahn abge¬
ſandt werden könnten. Die Eiſenbahn jenſeits Lundenburg war zerſtört; der
General von Hinderſin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen
Park von Transportmitteln zuſammen zu bringen.“
**) Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris.
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[36/0060] Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg. Berathungen, die anfangs regelmäßig, ſpäter in größern Abſtänden Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war. An jenem Tage handelte es ſich um die Richtung des weitern Vorgehns gegen Wien; ich war verſpätet zur Beſprechung er¬ ſchienen, und der König orientirte mich, daß es ſich darum handle, die Befeſtigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beſchaffenheit der Werke ſchweres Geſchütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müſſe *) und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich ſei. Nachdem Breſche gelegt, ſollten die Werke geſtürmt werden, wofür ein muthmaßlicher Verluſt von 2000 Mann veranſchlagt wurde. Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erſter Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne die Gefahr mindeſtens der franzöſiſchen Einmiſchung ſehr viel näher zu rücken, als ſie ohnehin lag **). Ich machte meine Beſorgniß geltend und ſagte: „Vierzehn Tage abwartender Pauſe können wir nicht verlieren, ohne das Schwergewicht des franzöſiſchen Arbitriums ge¬ fährlich zu verſtärken.“ Ich ſtellte die Frage, ob wir überhaupt die Floridsdorfer Befeſtigungen ſtürmen müßten, ob wir ſie nicht um¬ gehn könnten. Mit einer Viertelſchwenkung links könnte die Richtung auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe überſchritten werden. Entweder würden die Oeſtreicher dann den Kampf in ungünſtiger Lage mit Front nach Oſten ſüdlich der Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann ſei Wien ohne Schwertſtreich zu nehmen. Der König ließ ſich eine *) In dem Werke des Generalſtabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli: „Nach Dresden wurde an den Oberſten Mertens telegraphirt, 50 dorthin dirigirte [alſo wohl noch nicht eingetroffene] ſchwere Geſchütze ſo bereit zu halten, daß ſie, ſobald es befohlen würde, ohne Zeitverluſt auf der Eiſenbahn abge¬ ſandt werden könnten. Die Eiſenbahn jenſeits Lundenburg war zerſtört; der General von Hinderſin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen Park von Transportmitteln zuſammen zu bringen.“ **) Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/60>, abgerufen am 27.11.2024.