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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Eine Betrachtung über die Reichsverfassung.
Herstellung der Reichsverfassung befürchtet, daß die Gefährdung
unsrer nationalen Einheit in erster Linie von dynastischen Sonder¬
bestrebungen zu befürchten sei, und hatte mir daher zur Aufgabe
gestellt, das Vertrauen der Dynastien durch ehrliche und wohl¬
wollende Wahrung ihrer verfassungsmäßigen Rechte im Reiche zu
gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbesondre die
hervorragenden Fürstenhäuser eine gleichzeitige Befriedigung ihres
nationalen Sinnes und ihrer particulären Ansprüche fanden. In
dem Ehrgefühle, das den Kaiser Wilhelm I. seinen Bundesgenossen
gegenüber beseelte, habe ich stets ein Verständniß für die politische
Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen stark dynastischen Gefühle
schließlich doch überlegen war.

Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬
meinsamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬
tage, in Finanzen, basirt auf indirecten Steuern und in Mono¬
polen, deren Erträge nur bei dauernd gesichertem Zusammenhange
flüssig bleiben, Bindemittel herzustellen, die haltbar genug wären,
um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬
stand zu leisten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieser Rech¬
nung geirrt, daß ich die nationale Gesinnung der Dynastien unter¬
schätzt, die der deutschen Wähler oder doch des Reichstags über¬
schätzt hatte, war Ende der siebziger Jahre in mir noch nicht zum
Durchbruch gekommen, mit so viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,
am Hofe, in der conservativen Partei und deren "Declaranten" zu
kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynastien Abbitte zu leisten;
ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi schuldig sind, darüber
wird die Geschichte einmal entscheiden. Ich kann nur das Zeugniß
ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsscheuen Mitgliedern so¬
wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das
Votum ihrer Gefolgschaften lag, eine schwerere Schuld an der
Schädigung unsrer Zukunft beimesse, als sie selbst fühlen. "Get
you home, you fragments
," sagt Coriolan. Nur die Führung
des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber sie

Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.
Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung
unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬
beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe
geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬
wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu
gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die
hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres
nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In
dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen
gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche
Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle
ſchließlich doch überlegen war.

Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬
meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬
tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬
polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange
flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären,
um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬
ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬
nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬
ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬
ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum
Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,
am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu
kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten;
ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi ſchuldig ſind, darüber
wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß
ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬
wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das
Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der
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[309/0333] Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung. Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬ beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬ wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle ſchließlich doch überlegen war. Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬ meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬ tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬ polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären, um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬ ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬ nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬ ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬ ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage, am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten; ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi ſchuldig ſind, darüber wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬ wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der Schädigung unſrer Zukunft beimeſſe, als ſie ſelbſt fühlen. „Get you home, you fragments,“ ſagt Coriolan. Nur die Führung des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber ſie

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/333>, abgerufen am 24.11.2024.