Ressortparticularismus. Landtagsberathung kein Schutz gegen Unsinn.
Ich halte auch die Voraussetzung für trügerisch, daß ein un¬ geschickter Gesetzentwurf des Ministeriums im Landtage sachlich genügend richtig gestellt werden wird. Er kann und wird hoffent¬ lich in der Regel abgelehnt werden; ist aber die Frage, die er betrifft, dringend, so liegt die Gefahr vor, daß auch ministerieller Unsinn glatt durch die parlamentarischen Stadien geht, namentlich wenn es dem Verfasser gelingt, den einen oder andern einflu߬ reichen oder beredten Freund für sein Erzeugniß zu gewinnen. Abgeordnete, die einen Gesetzentwurf von mehr als hundert Paragraphen zu lesen sich die Mühe geben oder mit Verständ¬ niß zu lesen vermöchten, sind bei der Ueberzahl studirter Leute aus der Justiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die Lust und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und diese sind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Partei¬ bestrebungen, deren Tendenzen es ihnen erschweren, sachlich zu urtheilen. Die meisten Abgeordneten lesen und prüfen nicht, sondern fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractions¬ führer, wann sie in die Sitzung kommen und wie sie stimmen sollen. Das Alles ist aus der menschlichen Natur erklärlich, und niemand ist darüber zu tadeln, daß er nicht aus seiner Haut hinaus kann; nur darf man sich darüber nicht täuschen, daß es ein bedenklicher Irrthum ist, anzunehmen, daß unsern Gesetzen heut zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren sie bedürfen, oder auch nur die, welche sie vor 1848 genossen.
Ein Denkmal seiner Flüchtigkeit hat sich der Reichstag von 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes gesetzt, das in die Verfassung des Deutschen Reiches übergegangen ist. Der einem Beschlusse des Frankfurter Bundestages nachgebildete Artikel 68 des Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn sie gegen den Bund begangen werden, so bestraft werden sollen, als wenn sie gegen einen einzelnen Bundesstaat begangen wären. Die fünfte Nummer war mit "endlich" eingeführt. Der wegen seiner Gründlichkeit gerühmte Twesten stellte den Verbesserungsantrag, die drei ersten Nummern
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 18
Reſſortparticularismus. Landtagsberathung kein Schutz gegen Unſinn.
Ich halte auch die Vorauſſetzung für trügeriſch, daß ein un¬ geſchickter Geſetzentwurf des Miniſteriums im Landtage ſachlich genügend richtig geſtellt werden wird. Er kann und wird hoffent¬ lich in der Regel abgelehnt werden; iſt aber die Frage, die er betrifft, dringend, ſo liegt die Gefahr vor, daß auch miniſterieller Unſinn glatt durch die parlamentariſchen Stadien geht, namentlich wenn es dem Verfaſſer gelingt, den einen oder andern einflu߬ reichen oder beredten Freund für ſein Erzeugniß zu gewinnen. Abgeordnete, die einen Geſetzentwurf von mehr als hundert Paragraphen zu leſen ſich die Mühe geben oder mit Verſtänd¬ niß zu leſen vermöchten, ſind bei der Ueberzahl ſtudirter Leute aus der Juſtiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die Luſt und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und dieſe ſind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Partei¬ beſtrebungen, deren Tendenzen es ihnen erſchweren, ſachlich zu urtheilen. Die meiſten Abgeordneten leſen und prüfen nicht, ſondern fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractions¬ führer, wann ſie in die Sitzung kommen und wie ſie ſtimmen ſollen. Das Alles iſt aus der menſchlichen Natur erklärlich, und niemand iſt darüber zu tadeln, daß er nicht aus ſeiner Haut hinaus kann; nur darf man ſich darüber nicht täuſchen, daß es ein bedenklicher Irrthum iſt, anzunehmen, daß unſern Geſetzen heut zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren ſie bedürfen, oder auch nur die, welche ſie vor 1848 genoſſen.
Ein Denkmal ſeiner Flüchtigkeit hat ſich der Reichstag von 1867 in der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes geſetzt, das in die Verfaſſung des Deutſchen Reiches übergegangen iſt. Der einem Beſchluſſe des Frankfurter Bundestages nachgebildete Artikel 68 des Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn ſie gegen den Bund begangen werden, ſo beſtraft werden ſollen, als wenn ſie gegen einen einzelnen Bundesſtaat begangen wären. Die fünfte Nummer war mit „endlich“ eingeführt. Der wegen ſeiner Gründlichkeit gerühmte Tweſten ſtellte den Verbeſſerungsantrag, die drei erſten Nummern
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 18
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Reſſortparticularismus. Landtagsberathung kein Schutz gegen Unſinn.
Ich halte auch die Vorauſſetzung für trügeriſch, daß ein un¬
geſchickter Geſetzentwurf des Miniſteriums im Landtage ſachlich
genügend richtig geſtellt werden wird. Er kann und wird hoffent¬
lich in der Regel abgelehnt werden; iſt aber die Frage, die er
betrifft, dringend, ſo liegt die Gefahr vor, daß auch miniſterieller
Unſinn glatt durch die parlamentariſchen Stadien geht, namentlich
wenn es dem Verfaſſer gelingt, den einen oder andern einflu߬
reichen oder beredten Freund für ſein Erzeugniß zu gewinnen.
Abgeordnete, die einen Geſetzentwurf von mehr als hundert
Paragraphen zu leſen ſich die Mühe geben oder mit Verſtänd¬
niß zu leſen vermöchten, ſind bei der Ueberzahl ſtudirter Leute
aus der Juſtiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die
Luſt und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und dieſe
ſind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Partei¬
beſtrebungen, deren Tendenzen es ihnen erſchweren, ſachlich zu
urtheilen. Die meiſten Abgeordneten leſen und prüfen nicht, ſondern
fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractions¬
führer, wann ſie in die Sitzung kommen und wie ſie ſtimmen
ſollen. Das Alles iſt aus der menſchlichen Natur erklärlich, und
niemand iſt darüber zu tadeln, daß er nicht aus ſeiner Haut
hinaus kann; nur darf man ſich darüber nicht täuſchen, daß es ein
bedenklicher Irrthum iſt, anzunehmen, daß unſern Geſetzen heut
zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren
ſie bedürfen, oder auch nur die, welche ſie vor 1848 genoſſen.
Ein Denkmal ſeiner Flüchtigkeit hat ſich der Reichstag von
1867 in der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes geſetzt, das in
die Verfaſſung des Deutſchen Reiches übergegangen iſt. Der einem
Beſchluſſe des Frankfurter Bundestages nachgebildete Artikel 68 des
Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn ſie gegen den Bund
begangen werden, ſo beſtraft werden ſollen, als wenn ſie gegen einen
einzelnen Bundesſtaat begangen wären. Die fünfte Nummer war
mit „endlich“ eingeführt. Der wegen ſeiner Gründlichkeit gerühmte
Tweſten ſtellte den Verbeſſerungsantrag, die drei erſten Nummern
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 18
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/297>, abgerufen am 16.02.2025.
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