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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
ständigung mit ihnen erst beginnen, nachdem sie den Vorstoß gemacht
hätten. Die Betheiligung Oestreichs an der türkischen Erbschaft
wird doch nur im Einverständnisse mit Rußland geregelt werden,
und der östreichische Antheil um so größer ausfallen, je mehr
man in Wien zu warten und die russische Politik zu ermuthigen
weiß, eine weiter vorgeschobene Stellung einzunehmen. England
gegenüber mag die Position des heutigen Rußland als verbessert
gelten, wenn es Konstantinopel beherrscht, Oestreich und Deutsch¬
land gegenüber ist sie weniger gefährlich, so lange es in Konstan¬
tinopel steht. Es würde dann die preußische Ungeschicklichkeit nicht
mehr möglich sein, uns wie 1855 für Oestreich, England, Frank¬
reich auszuspielen und einzusetzen, um uns in Paris eine demüthi¬
gende Zulassung zum Congreß und eine mention honorable als
europäische Macht zu verdienen.

Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen seines
Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen
wird, auf unsre Neutralität rechnen könne, so lange Oestreich
nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich
beantwortet, so wird Rußland zunächst denselben Weg wie 1876
in Reichstadt einschlagen und wieder versuchen, Oestreichs Ge¬
nossenschaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An¬
erbietungen machen könnte, ist ein sehr weites, nicht nur im Orient
auf Kosten der Pforte, sondern auch in Deutschland auf unsre
Kosten. Die Zuverlässigkeit unsres Bündnisses mit Oestreich-
Ungarn gegenüber solchen Versuchungen wird nicht allein von dem
Buchstaben der Verabredung, sondern auch einigermaßen von dem
Charakter der Persönlichkeiten und von den politischen und con¬
fessionellen Strömungen abhängen, die dann in Oestreich leitend
sein werden. Gelingt es der russischen Politik, Oestreich zu ge¬
winnen, so ist die Coalition des siebenjährigen Krieges gegen uns
fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben sein, weil
seine Interessen am Rheine gewichtiger sind als die im Orient und
am Bosporus.

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
ſtändigung mit ihnen erſt beginnen, nachdem ſie den Vorſtoß gemacht
hätten. Die Betheiligung Oeſtreichs an der türkiſchen Erbſchaft
wird doch nur im Einverſtändniſſe mit Rußland geregelt werden,
und der öſtreichiſche Antheil um ſo größer ausfallen, je mehr
man in Wien zu warten und die ruſſiſche Politik zu ermuthigen
weiß, eine weiter vorgeſchobene Stellung einzunehmen. England
gegenüber mag die Poſition des heutigen Rußland als verbeſſert
gelten, wenn es Konſtantinopel beherrſcht, Oeſtreich und Deutſch¬
land gegenüber iſt ſie weniger gefährlich, ſo lange es in Konſtan¬
tinopel ſteht. Es würde dann die preußiſche Ungeſchicklichkeit nicht
mehr möglich ſein, uns wie 1855 für Oeſtreich, England, Frank¬
reich auszuſpielen und einzuſetzen, um uns in Paris eine demüthi¬
gende Zulaſſung zum Congreß und eine mention honorable als
europäiſche Macht zu verdienen.

Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen ſeines
Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen
wird, auf unſre Neutralität rechnen könne, ſo lange Oeſtreich
nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich
beantwortet, ſo wird Rußland zunächſt denſelben Weg wie 1876
in Reichſtadt einſchlagen und wieder verſuchen, Oeſtreichs Ge¬
noſſenſchaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An¬
erbietungen machen könnte, iſt ein ſehr weites, nicht nur im Orient
auf Koſten der Pforte, ſondern auch in Deutſchland auf unſre
Koſten. Die Zuverläſſigkeit unſres Bündniſſes mit Oeſtreich-
Ungarn gegenüber ſolchen Verſuchungen wird nicht allein von dem
Buchſtaben der Verabredung, ſondern auch einigermaßen von dem
Charakter der Perſönlichkeiten und von den politiſchen und con¬
feſſionellen Strömungen abhängen, die dann in Oeſtreich leitend
ſein werden. Gelingt es der ruſſiſchen Politik, Oeſtreich zu ge¬
winnen, ſo iſt die Coalition des ſiebenjährigen Krieges gegen uns
fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben ſein, weil
ſeine Intereſſen am Rheine gewichtiger ſind als die im Orient und
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[264/0288] Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. ſtändigung mit ihnen erſt beginnen, nachdem ſie den Vorſtoß gemacht hätten. Die Betheiligung Oeſtreichs an der türkiſchen Erbſchaft wird doch nur im Einverſtändniſſe mit Rußland geregelt werden, und der öſtreichiſche Antheil um ſo größer ausfallen, je mehr man in Wien zu warten und die ruſſiſche Politik zu ermuthigen weiß, eine weiter vorgeſchobene Stellung einzunehmen. England gegenüber mag die Poſition des heutigen Rußland als verbeſſert gelten, wenn es Konſtantinopel beherrſcht, Oeſtreich und Deutſch¬ land gegenüber iſt ſie weniger gefährlich, ſo lange es in Konſtan¬ tinopel ſteht. Es würde dann die preußiſche Ungeſchicklichkeit nicht mehr möglich ſein, uns wie 1855 für Oeſtreich, England, Frank¬ reich auszuſpielen und einzuſetzen, um uns in Paris eine demüthi¬ gende Zulaſſung zum Congreß und eine mention honorable als europäiſche Macht zu verdienen. Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen ſeines Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen wird, auf unſre Neutralität rechnen könne, ſo lange Oeſtreich nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich beantwortet, ſo wird Rußland zunächſt denſelben Weg wie 1876 in Reichſtadt einſchlagen und wieder verſuchen, Oeſtreichs Ge¬ noſſenſchaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An¬ erbietungen machen könnte, iſt ein ſehr weites, nicht nur im Orient auf Koſten der Pforte, ſondern auch in Deutſchland auf unſre Koſten. Die Zuverläſſigkeit unſres Bündniſſes mit Oeſtreich- Ungarn gegenüber ſolchen Verſuchungen wird nicht allein von dem Buchſtaben der Verabredung, ſondern auch einigermaßen von dem Charakter der Perſönlichkeiten und von den politiſchen und con¬ feſſionellen Strömungen abhängen, die dann in Oeſtreich leitend ſein werden. Gelingt es der ruſſiſchen Politik, Oeſtreich zu ge¬ winnen, ſo iſt die Coalition des ſiebenjährigen Krieges gegen uns fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben ſein, weil ſeine Intereſſen am Rheine gewichtiger ſind als die im Orient und am Bosporus.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/288>, abgerufen am 22.11.2024.