Ich kann mich unter diesen Umständen der Ueberzeugung nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht sei. Die nach unsern Berichten in jüngster Zeit versuchten Er¬ mittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg beginnt, Beistand finden würde, haben freilich ein negatives Resultat ergeben. Italien ist machtlos befunden worden, und Frankreich hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Ru߬ land allein sich für einen Angriffskrieg gegen Deutschland nicht stark genug fühle.
In dieser Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an uns Forderungen gestellt, welche darauf hinausgehn, daß wir defi¬ nitiv zwischen Rußland und Oestreich optiren sollen, indem wir die deutschen Mitglieder der orientalischen Commissionen anwiesen, in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu stimmen, während in diesen Fragen unsrer Meinung nach die richtige Auslegung der Congreßbeschlüsse auf Seiten der durch Oestreich, England und Frankreich gebildeten Majorität ist, und Deutschland deshalb mit dieser gestimmt hat, so daß Rußland theils mit, theils ohne Italien allein die Minorität bildet. Obschon diese Fragen, wie z. B. die Lage der Brücke bei Silistria, die der Türkei vom Congreß conce¬ dirte Militärstraße in Bulgarien, die Verwaltung der Post und Telegraphie und der Grenzstreit über einzelne Dörfer an sich im Vergleich mit dem Frieden großer Reiche sehr unbedeutende sind, so war das russische Verlangen, daß wir in Betreff derselben nicht mehr mit Oestreich, sondern mit Rußland stimmen sollten, nicht einmal, sondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet bezüglich der Folgen, welche unsre Weigerung eventuell für die internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Diese auffällige Thatsache war, da sie mit dem Rücktritt des Grafen Andrassy*) zusammenfiel, geeignet, die Besorgniß zu erwecken, daß
*) Am 14. August hatte der Kaiser Franz Joseph die von dem Grafen Andrassy nachgesuchte Entlassung im Prinzip genehmigt, sich aber die definitive
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Ich kann mich unter dieſen Umſtänden der Ueberzeugung nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht ſei. Die nach unſern Berichten in jüngſter Zeit verſuchten Er¬ mittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg beginnt, Beiſtand finden würde, haben freilich ein negatives Reſultat ergeben. Italien iſt machtlos befunden worden, und Frankreich hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Ru߬ land allein ſich für einen Angriffskrieg gegen Deutſchland nicht ſtark genug fühle.
In dieſer Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an uns Forderungen geſtellt, welche darauf hinausgehn, daß wir defi¬ nitiv zwiſchen Rußland und Oeſtreich optiren ſollen, indem wir die deutſchen Mitglieder der orientaliſchen Commiſſionen anwieſen, in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu ſtimmen, während in dieſen Fragen unſrer Meinung nach die richtige Auslegung der Congreßbeſchlüſſe auf Seiten der durch Oeſtreich, England und Frankreich gebildeten Majorität iſt, und Deutſchland deshalb mit dieſer geſtimmt hat, ſo daß Rußland theils mit, theils ohne Italien allein die Minorität bildet. Obſchon dieſe Fragen, wie z. B. die Lage der Brücke bei Siliſtria, die der Türkei vom Congreß conce¬ dirte Militärſtraße in Bulgarien, die Verwaltung der Poſt und Telegraphie und der Grenzſtreit über einzelne Dörfer an ſich im Vergleich mit dem Frieden großer Reiche ſehr unbedeutende ſind, ſo war das ruſſiſche Verlangen, daß wir in Betreff derſelben nicht mehr mit Oeſtreich, ſondern mit Rußland ſtimmen ſollten, nicht einmal, ſondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet bezüglich der Folgen, welche unſre Weigerung eventuell für die internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Dieſe auffällige Thatſache war, da ſie mit dem Rücktritt des Grafen Andraſſy*) zuſammenfiel, geeignet, die Beſorgniß zu erwecken, daß
*) Am 14. Auguſt hatte der Kaiſer Franz Joſeph die von dem Grafen Andraſſy nachgeſuchte Entlaſſung im Prinzip genehmigt, ſich aber die definitive
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Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Ich kann mich unter dieſen Umſtänden der Ueberzeugung
nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch
Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht
ſei. Die nach unſern Berichten in jüngſter Zeit verſuchten Er¬
mittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg
beginnt, Beiſtand finden würde, haben freilich ein negatives Reſultat
ergeben. Italien iſt machtlos befunden worden, und Frankreich
hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Ru߬
land allein ſich für einen Angriffskrieg gegen Deutſchland nicht
ſtark genug fühle.
In dieſer Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an
uns Forderungen geſtellt, welche darauf hinausgehn, daß wir defi¬
nitiv zwiſchen Rußland und Oeſtreich optiren ſollen, indem wir
die deutſchen Mitglieder der orientaliſchen Commiſſionen anwieſen,
in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu ſtimmen, während in
dieſen Fragen unſrer Meinung nach die richtige Auslegung der
Congreßbeſchlüſſe auf Seiten der durch Oeſtreich, England und
Frankreich gebildeten Majorität iſt, und Deutſchland deshalb mit
dieſer geſtimmt hat, ſo daß Rußland theils mit, theils ohne Italien
allein die Minorität bildet. Obſchon dieſe Fragen, wie z. B. die
Lage der Brücke bei Siliſtria, die der Türkei vom Congreß conce¬
dirte Militärſtraße in Bulgarien, die Verwaltung der Poſt und
Telegraphie und der Grenzſtreit über einzelne Dörfer an ſich im
Vergleich mit dem Frieden großer Reiche ſehr unbedeutende ſind,
ſo war das ruſſiſche Verlangen, daß wir in Betreff derſelben nicht
mehr mit Oeſtreich, ſondern mit Rußland ſtimmen ſollten, nicht
einmal, ſondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet
bezüglich der Folgen, welche unſre Weigerung eventuell für die
internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Dieſe
auffällige Thatſache war, da ſie mit dem Rücktritt des Grafen
Andraſſy *) zuſammenfiel, geeignet, die Beſorgniß zu erwecken, daß
*) Am 14. Auguſt hatte der Kaiſer Franz Joſeph die von dem Grafen
Andraſſy nachgeſuchte Entlaſſung im Prinzip genehmigt, ſich aber die definitive
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/264>, abgerufen am 16.02.2025.
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