Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß. ordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiser vorgelegtund zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiserlichen Randbemerkungen, von denen Gortschakow mir in der weitern geschäftlichen Correspondenz mitunter Einsicht gestattete, lieferten mir den zweifellosen Beweis, wie der uns wohlgesinnte Kaiser Alexander II. für die verstimmten Berichte von Budberg und Oubril empfänglich war und daraus nicht auf die falsche Darstellung seiner Vertreter, sondern auf den in Berlin herrschenden Mangel an einsichtiger und wohlwollender Politik schloß. Wenn der Fürst Gortschakow mir derartige Dinge unerbrochen zu lesen gab, um mit seinem Vertrauen zu coquettiren, so pflegte er zu sagen: "Vous oublierez ce que vous ne deviez pas lire," was ich natürlich, nachdem ich im Nebenzimmer die Depeschen durchgesehn hatte, zu¬ sagte und, so lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe, da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch Anklagen gegen den Vertreter des russischen in Berlin zu ver¬ schlechtern, und da ich ungeschickte Verwerthung meiner Meldungen zu höfischen Intrigen und Verhetzungen befürchtete. Es wäre überhaupt zu wünschen, daß wir an jedem befreun¬ Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß. ordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiſer vorgelegtund zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiſerlichen Randbemerkungen, von denen Gortſchakow mir in der weitern geſchäftlichen Correſpondenz mitunter Einſicht geſtattete, lieferten mir den zweifelloſen Beweis, wie der uns wohlgeſinnte Kaiſer Alexander II. für die verſtimmten Berichte von Budberg und Oubril empfänglich war und daraus nicht auf die falſche Darſtellung ſeiner Vertreter, ſondern auf den in Berlin herrſchenden Mangel an einſichtiger und wohlwollender Politik ſchloß. Wenn der Fürſt Gortſchakow mir derartige Dinge unerbrochen zu leſen gab, um mit ſeinem Vertrauen zu coquettiren, ſo pflegte er zu ſagen: „Vous oublierez ce que vous ne deviez pas lire,“ was ich natürlich, nachdem ich im Nebenzimmer die Depeſchen durchgeſehn hatte, zu¬ ſagte und, ſo lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe, da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch Anklagen gegen den Vertreter des ruſſiſchen in Berlin zu ver¬ ſchlechtern, und da ich ungeſchickte Verwerthung meiner Meldungen zu höfiſchen Intrigen und Verhetzungen befürchtete. Es wäre überhaupt zu wünſchen, daß wir an jedem befreun¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0250" n="226"/><fw place="top" type="header">Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.<lb/></fw>ordnete. 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Ich habe die Berichte unſrer<lb/> Vertreter an deutſchen Höfen höhern Orts oft nicht vorgelegt,<lb/> weil ſie mehr die Tendenz hatten, pikant zu ſein oder verſtim¬<lb/> mende Aeußerungen oder Erſcheinungen mit Vorliebe zu melden<lb/> und zu würdigen, als die Beziehungen zwiſchen beiden Höfen zu<lb/> beſſern und zu pflegen, ſo lange letztres, wie in Deutſchland <hi rendition="#g">ſtets</hi><lb/> der Fall iſt, die Aufgabe unſrer Politik war. Ich habe mich für<lb/> berechtigt gehalten, aus Petersburg und Paris Dinge, die zu Hauſe<lb/> nur zwecklos verſtimmen konnten oder ſich lediglich zu ſatiriſchen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0250]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
ordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiſer vorgelegt
und zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiſerlichen
Randbemerkungen, von denen Gortſchakow mir in der weitern
geſchäftlichen Correſpondenz mitunter Einſicht geſtattete, lieferten
mir den zweifelloſen Beweis, wie der uns wohlgeſinnte Kaiſer
Alexander II. für die verſtimmten Berichte von Budberg und Oubril
empfänglich war und daraus nicht auf die falſche Darſtellung ſeiner
Vertreter, ſondern auf den in Berlin herrſchenden Mangel an
einſichtiger und wohlwollender Politik ſchloß. Wenn der Fürſt
Gortſchakow mir derartige Dinge unerbrochen zu leſen gab, um
mit ſeinem Vertrauen zu coquettiren, ſo pflegte er zu ſagen: „Vous
oublierez ce que vous ne deviez pas lire,“ was ich natürlich,
nachdem ich im Nebenzimmer die Depeſchen durchgeſehn hatte, zu¬
ſagte und, ſo lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe,
da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch
Anklagen gegen den Vertreter des ruſſiſchen in Berlin zu ver¬
ſchlechtern, und da ich ungeſchickte Verwerthung meiner Meldungen
zu höfiſchen Intrigen und Verhetzungen befürchtete.
Es wäre überhaupt zu wünſchen, daß wir an jedem befreun¬
deten Hofe durch Diplomaten vertreten wären, die ohne der Ge¬
ſammtpolitik des eignen Vaterlandes vorzugreifen, doch nach Mög¬
lichkeit die Beziehungen beider betheiligten Staaten dadurch pflegten,
daß ſie Verſtimmungen und Klatſch nach Möglichkeit verſchwiegen,
ihr Bedürfniß, witzig zu ſein, zügelten und eher die förderliche
Seite der Sache hervorhöben. Ich habe die Berichte unſrer
Vertreter an deutſchen Höfen höhern Orts oft nicht vorgelegt,
weil ſie mehr die Tendenz hatten, pikant zu ſein oder verſtim¬
mende Aeußerungen oder Erſcheinungen mit Vorliebe zu melden
und zu würdigen, als die Beziehungen zwiſchen beiden Höfen zu
beſſern und zu pflegen, ſo lange letztres, wie in Deutſchland ſtets
der Fall iſt, die Aufgabe unſrer Politik war. Ich habe mich für
berechtigt gehalten, aus Petersburg und Paris Dinge, die zu Hauſe
nur zwecklos verſtimmen konnten oder ſich lediglich zu ſatiriſchen
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