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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß.
die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu son¬
direnden Macht seine Bedenken hat, hatte die russische Diplomatie
durch die Vorgänge zwischen dem Kaiser Nicolaus und Seymour
erfahren. Die Neigung Gortschakows, telegraphische Anfragen
bei uns nicht durch den russischen Vertreter in Berlin, sondern
durch den deutschen in Petersburg zu bewirken1), hat mich ge¬
nöthigt, unsre Missionen in Petersburg häufiger als an andern
Höfen darauf aufmerksam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht
in der Vertretung der Anliegen des russischen Cabinets bei
uns, sondern unsrer Wünsche an Rußland liege. Die Versuchung
für einen Diplomaten, seine dienstliche und gesellschaftliche Stel¬
lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt
ist, zu pflegen, ist groß und wird noch gefährlicher, wenn der
fremde Minister unsern Agenten für seine Wünsche bearbeiten
und gewinnen kann, ehe dieser alle die Gründe kennt, aus denen
für seine Regirung die Erfüllung und selbst die Zumuthung inop¬
portun ist.

Außerhalb aller aber, selbst der russischen, Gewohnheiten lag
es, wenn der deutsche Militärbevollmächtigte am russischen Hofe uns,
und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des russischen
Kaisers eine politische Frage von großer Tragweite in dem kate¬
gorischen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, so unbequem
sie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er¬
langen können, daß unsre Militärbevollmächtigten in Petersburg
nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, sondern direct in
eigenhändigen Briefen an Se. Majestät berichteten, -- einer Ge¬
wohnheit, die sich davon herschrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem
ersten Militärattache in Petersburg, dem frühern Commandanten
von Kolberg, Lucadou, eine besonders intime Stellung zu dem Kaiser
gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattache in solchen Briefen
Alles, was der russische Kaiser über Politik in dem gewohnheits¬

1) S. o. S. 173.

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu ſon¬
direnden Macht ſeine Bedenken hat, hatte die ruſſiſche Diplomatie
durch die Vorgänge zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und Seymour
erfahren. Die Neigung Gortſchakows, telegraphiſche Anfragen
bei uns nicht durch den ruſſiſchen Vertreter in Berlin, ſondern
durch den deutſchen in Petersburg zu bewirken1), hat mich ge¬
nöthigt, unſre Miſſionen in Petersburg häufiger als an andern
Höfen darauf aufmerkſam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht
in der Vertretung der Anliegen des ruſſiſchen Cabinets bei
uns, ſondern unſrer Wünſche an Rußland liege. Die Verſuchung
für einen Diplomaten, ſeine dienſtliche und geſellſchaftliche Stel¬
lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt
iſt, zu pflegen, iſt groß und wird noch gefährlicher, wenn der
fremde Miniſter unſern Agenten für ſeine Wünſche bearbeiten
und gewinnen kann, ehe dieſer alle die Gründe kennt, aus denen
für ſeine Regirung die Erfüllung und ſelbſt die Zumuthung inop¬
portun iſt.

Außerhalb aller aber, ſelbſt der ruſſiſchen, Gewohnheiten lag
es, wenn der deutſche Militärbevollmächtigte am ruſſiſchen Hofe uns,
und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des ruſſiſchen
Kaiſers eine politiſche Frage von großer Tragweite in dem kate¬
goriſchen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, ſo unbequem
ſie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er¬
langen können, daß unſre Militärbevollmächtigten in Petersburg
nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, ſondern direct in
eigenhändigen Briefen an Se. Majeſtät berichteten, — einer Ge¬
wohnheit, die ſich davon herſchrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem
erſten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten
von Kolberg, Lucadou, eine beſonders intime Stellung zu dem Kaiſer
gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in ſolchen Briefen
Alles, was der ruſſiſche Kaiſer über Politik in dem gewohnheits¬

1) S. o. S. 173.
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[212/0236] Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß. die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu ſon¬ direnden Macht ſeine Bedenken hat, hatte die ruſſiſche Diplomatie durch die Vorgänge zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und Seymour erfahren. Die Neigung Gortſchakows, telegraphiſche Anfragen bei uns nicht durch den ruſſiſchen Vertreter in Berlin, ſondern durch den deutſchen in Petersburg zu bewirken 1), hat mich ge¬ nöthigt, unſre Miſſionen in Petersburg häufiger als an andern Höfen darauf aufmerkſam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht in der Vertretung der Anliegen des ruſſiſchen Cabinets bei uns, ſondern unſrer Wünſche an Rußland liege. Die Verſuchung für einen Diplomaten, ſeine dienſtliche und geſellſchaftliche Stel¬ lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt iſt, zu pflegen, iſt groß und wird noch gefährlicher, wenn der fremde Miniſter unſern Agenten für ſeine Wünſche bearbeiten und gewinnen kann, ehe dieſer alle die Gründe kennt, aus denen für ſeine Regirung die Erfüllung und ſelbſt die Zumuthung inop¬ portun iſt. Außerhalb aller aber, ſelbſt der ruſſiſchen, Gewohnheiten lag es, wenn der deutſche Militärbevollmächtigte am ruſſiſchen Hofe uns, und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des ruſſiſchen Kaiſers eine politiſche Frage von großer Tragweite in dem kate¬ goriſchen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, ſo unbequem ſie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er¬ langen können, daß unſre Militärbevollmächtigten in Petersburg nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, ſondern direct in eigenhändigen Briefen an Se. Majeſtät berichteten, — einer Ge¬ wohnheit, die ſich davon herſchrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem erſten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten von Kolberg, Lucadou, eine beſonders intime Stellung zu dem Kaiſer gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in ſolchen Briefen Alles, was der ruſſiſche Kaiſer über Politik in dem gewohnheits¬ 1) S. o. S. 173.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/236>, abgerufen am 21.11.2024.