Ein Traum als Offenbarung. Nervenkrisis. Roons Präsidium.
Die Beschwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die darin sofort gestellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um so mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer schweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiser gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in dem Präsidium des Berliner Congresses hervorgerufen, zwar aus amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gasteiner Kur mehr verschärft als geheilt war. Diese Kur, der mein Mit¬ arbeiter, der Staatsminister Bernhard von Bülow, am 20. October 1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn sie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung gestört wird.
Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die Vorlage des Socialistengesetzes im Reichstage zu vertreten und fand dabei die Erfahrung bestätigt, daß die oratorische Leistung auf der Tribüne eine geringere Nervenanstrengung erfordert als die Correctur einer langen schnell gesprochenen Rede, deren Wortlaut an leitender Stelle vertreten werden soll. Während einer solchen Correctur kam bei mir eine seit Monaten vorbereitete Nervenkrisis körperlich zum Ausbruche, glücklicherweise in der leichtern Form der Nesselsucht.
Die Aufgaben eines leitenden Ministers einer europäischen Großmacht mit parlamentarischer Verfassung sind an sich hin¬ reichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes zu absorbiren; sie werden es in höherm Maße, wenn der Minister, wie in Deutschland und Italien, einer Nation über das Stadium ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem starken Isolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn man Alles, was der Mensch an Kräften und Gesundheit besitzt, an die Lösung solcher Aufgaben setzt, so ist man gegen alle Er¬ schwerungen derselben, welche nicht sachlich nothwendig sind, doppelt empfindlich. Ich glaubte schon zu Anfang der 70er Jahre mit meiner Gesundheit zu Ende zu sein und überließ deshalb das Prä¬ sidium des Cabinets dem einzigen mir persönlich Nahestehenden unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals
Ein Traum als Offenbarung. Nervenkriſis. Roons Präſidium.
Die Beſchwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die darin ſofort geſtellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um ſo mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer ſchweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiſer gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in dem Präſidium des Berliner Congreſſes hervorgerufen, zwar aus amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gaſteiner Kur mehr verſchärft als geheilt war. Dieſe Kur, der mein Mit¬ arbeiter, der Staatsminiſter Bernhard von Bülow, am 20. October 1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn ſie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung geſtört wird.
Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die Vorlage des Socialiſtengeſetzes im Reichstage zu vertreten und fand dabei die Erfahrung beſtätigt, daß die oratoriſche Leiſtung auf der Tribüne eine geringere Nervenanſtrengung erfordert als die Correctur einer langen ſchnell geſprochenen Rede, deren Wortlaut an leitender Stelle vertreten werden ſoll. Während einer ſolchen Correctur kam bei mir eine ſeit Monaten vorbereitete Nervenkriſis körperlich zum Ausbruche, glücklicherweiſe in der leichtern Form der Neſſelſucht.
Die Aufgaben eines leitenden Miniſters einer europäiſchen Großmacht mit parlamentariſcher Verfaſſung ſind an ſich hin¬ reichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes zu abſorbiren; ſie werden es in höherm Maße, wenn der Miniſter, wie in Deutſchland und Italien, einer Nation über das Stadium ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem ſtarken Iſolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn man Alles, was der Menſch an Kräften und Geſundheit beſitzt, an die Löſung ſolcher Aufgaben ſetzt, ſo iſt man gegen alle Er¬ ſchwerungen derſelben, welche nicht ſachlich nothwendig ſind, doppelt empfindlich. Ich glaubte ſchon zu Anfang der 70er Jahre mit meiner Geſundheit zu Ende zu ſein und überließ deshalb das Prä¬ ſidium des Cabinets dem einzigen mir perſönlich Naheſtehenden unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals
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Ein Traum als Offenbarung. Nervenkriſis. Roons Präſidium.
Die Beſchwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die
darin ſofort geſtellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um
ſo mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer
ſchweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiſer
gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in
dem Präſidium des Berliner Congreſſes hervorgerufen, zwar aus
amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gaſteiner
Kur mehr verſchärft als geheilt war. Dieſe Kur, der mein Mit¬
arbeiter, der Staatsminiſter Bernhard von Bülow, am 20. October
1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn
ſie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung geſtört wird.
Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die
Vorlage des Socialiſtengeſetzes im Reichstage zu vertreten und fand
dabei die Erfahrung beſtätigt, daß die oratoriſche Leiſtung auf der
Tribüne eine geringere Nervenanſtrengung erfordert als die Correctur
einer langen ſchnell geſprochenen Rede, deren Wortlaut an leitender
Stelle vertreten werden ſoll. Während einer ſolchen Correctur
kam bei mir eine ſeit Monaten vorbereitete Nervenkriſis körperlich
zum Ausbruche, glücklicherweiſe in der leichtern Form der Neſſelſucht.
Die Aufgaben eines leitenden Miniſters einer europäiſchen
Großmacht mit parlamentariſcher Verfaſſung ſind an ſich hin¬
reichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes
zu abſorbiren; ſie werden es in höherm Maße, wenn der Miniſter,
wie in Deutſchland und Italien, einer Nation über das Stadium
ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem ſtarken
Iſolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn
man Alles, was der Menſch an Kräften und Geſundheit beſitzt,
an die Löſung ſolcher Aufgaben ſetzt, ſo iſt man gegen alle Er¬
ſchwerungen derſelben, welche nicht ſachlich nothwendig ſind, doppelt
empfindlich. Ich glaubte ſchon zu Anfang der 70er Jahre mit
meiner Geſundheit zu Ende zu ſein und überließ deshalb das Prä¬
ſidium des Cabinets dem einzigen mir perſönlich Naheſtehenden
unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/219>, abgerufen am 16.02.2025.
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