Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Fünfundzwanzigstes Kapitel: Bruch mit den Conservativen. sammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den status quoangreifenden recrutiren sich naturgemäß mehr aus den mit den bestehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen, auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht die letzte Stelle ein. Nun ist es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht der Menschen im Allgemeinen, so doch der Deutschen, daß der Un¬ zufriedene arbeitsamer und rühriger ist als der Zufriedene, der Be¬ gehrliche strebsamer als der Satte. Die geistig und körperlich satten Deutschen sind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitsam, aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Bestehende Ankämpfenden findet sich der Wohlhabende bei uns seltener aus Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz getrieben, der auf diesem Wege schnellere Befriedigung hofft oder durch Verstimmung über politische oder confessionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden ist. Das Ergebniß im Ganzen ist immer eine größere Arbeitsamkeit unter den Kräften, die das Bestehende angreifen, als unter denen, die es vertheidigen, also den Conservativen. Dieser Mangel an Arbeit¬ samkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conser¬ vativen Fraction in höherm Maße, als dieselbe durch individuelle Selbständigkeit und stärkern Eigensinn der Einzelnen erschwert werden könnte. Nach meinen Erfahrungen ist die Abhängigkeit der conservativen Fractionen von dem Gebote ihrer Leitung mindestens ebenso stark, vielleicht stärker als auf der äußersten Linken. Die Scheu vor dem Bruch ist auf der rechten Seite vielleicht größer als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen stark wirkende Vorwurf, "ministeriell zu sein", war der objectiven Be¬ urtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken. Dieser Vorwurf hörte sofort auf, den Conservativen und andern Fractionen empfindlich zu sein, als durch meine Entlassung die regirende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in der Hoffnung, bei ihrer Wiederbesetzung betheiligt zu werden, bis zur unehrlichen Verleugnung und Boycottirung des frühern Kanzlers und seiner Politik servil und ministeriell wurde. Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen. ſammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den ſtatus quoangreifenden recrutiren ſich naturgemäß mehr aus den mit den beſtehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen, auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht die letzte Stelle ein. Nun iſt es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht der Menſchen im Allgemeinen, ſo doch der Deutſchen, daß der Un¬ zufriedene arbeitſamer und rühriger iſt als der Zufriedene, der Be¬ gehrliche ſtrebſamer als der Satte. Die geiſtig und körperlich ſatten Deutſchen ſind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitſam, aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Beſtehende Ankämpfenden findet ſich der Wohlhabende bei uns ſeltener aus Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz getrieben, der auf dieſem Wege ſchnellere Befriedigung hofft oder durch Verſtimmung über politiſche oder confeſſionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden iſt. Das Ergebniß im Ganzen iſt immer eine größere Arbeitſamkeit unter den Kräften, die das Beſtehende angreifen, als unter denen, die es vertheidigen, alſo den Conſervativen. Dieſer Mangel an Arbeit¬ ſamkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conſer¬ vativen Fraction in höherm Maße, als dieſelbe durch individuelle Selbſtändigkeit und ſtärkern Eigenſinn der Einzelnen erſchwert werden könnte. Nach meinen Erfahrungen iſt die Abhängigkeit der conſervativen Fractionen von dem Gebote ihrer Leitung mindeſtens ebenſo ſtark, vielleicht ſtärker als auf der äußerſten Linken. Die Scheu vor dem Bruch iſt auf der rechten Seite vielleicht größer als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen ſtark wirkende Vorwurf, „miniſteriell zu ſein“, war der objectiven Be¬ urtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken. Dieſer Vorwurf hörte ſofort auf, den Conſervativen und andern Fractionen empfindlich zu ſein, als durch meine Entlaſſung die regirende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in der Hoffnung, bei ihrer Wiederbeſetzung betheiligt zu werden, bis zur unehrlichen Verleugnung und Boycottirung des frühern Kanzlers und ſeiner Politik ſervil und miniſteriell wurde. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0184" n="160"/><fw place="top" type="header">Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.<lb/></fw> ſammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den <hi rendition="#aq">ſtatus quo</hi><lb/> angreifenden recrutiren ſich naturgemäß mehr aus den mit den<lb/> beſtehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen,<lb/> auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht<lb/> die letzte Stelle ein. 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Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
ſammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den ſtatus quo
angreifenden recrutiren ſich naturgemäß mehr aus den mit den
beſtehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen,
auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht
die letzte Stelle ein. Nun iſt es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht
der Menſchen im Allgemeinen, ſo doch der Deutſchen, daß der Un¬
zufriedene arbeitſamer und rühriger iſt als der Zufriedene, der Be¬
gehrliche ſtrebſamer als der Satte. Die geiſtig und körperlich
ſatten Deutſchen ſind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitſam,
aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Beſtehende
Ankämpfenden findet ſich der Wohlhabende bei uns ſeltener aus
Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz getrieben, der auf dieſem Wege
ſchnellere Befriedigung hofft oder durch Verſtimmung über politiſche
oder confeſſionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden iſt.
Das Ergebniß im Ganzen iſt immer eine größere Arbeitſamkeit unter
den Kräften, die das Beſtehende angreifen, als unter denen, die
es vertheidigen, alſo den Conſervativen. Dieſer Mangel an Arbeit¬
ſamkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conſer¬
vativen Fraction in höherm Maße, als dieſelbe durch individuelle
Selbſtändigkeit und ſtärkern Eigenſinn der Einzelnen erſchwert
werden könnte. Nach meinen Erfahrungen iſt die Abhängigkeit der
conſervativen Fractionen von dem Gebote ihrer Leitung mindeſtens
ebenſo ſtark, vielleicht ſtärker als auf der äußerſten Linken. Die
Scheu vor dem Bruch iſt auf der rechten Seite vielleicht größer
als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen ſtark
wirkende Vorwurf, „miniſteriell zu ſein“, war der objectiven Be¬
urtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken.
Dieſer Vorwurf hörte ſofort auf, den Conſervativen und andern
Fractionen empfindlich zu ſein, als durch meine Entlaſſung die
regirende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in
der Hoffnung, bei ihrer Wiederbeſetzung betheiligt zu werden, bis
zur unehrlichen Verleugnung und Boycottirung des frühern Kanzlers
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