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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles.
ein Neutrum bleiben, ,das Präsidium'? In dem Ausdrucke ,Präsi¬
dium' liegt eine Abstraction, in dem Worte ,Kaiser' eine große
Schwungkraft"1).

Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den
Kaisertitel herzustellen, welches nicht einer preußisch-dynastischen
Eitelkeit, sondern allein dem Glauben an seine Nützlichkeit für
Förderung der nationalen Einheit entsprang, im Anfange der gün¬
stigen Wendung des Krieges nicht immer Anklang gefunden. Seine
Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politischen Phantasten,
denen er sein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbschaft
des von Karl dem Großen wiedererweckten "römischen" Kaiser¬
thums sei das Unglück Deutschlands gewesen, ein ausländischer, für
die Nation ungesunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch
geschichtlich sein mag, so unpraktisch war die Bürgschaft gegen
analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel
"König" der Deutschen sahen. Es lag heut zu Tage keine Gefahr
vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnerung des Volkes
lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutschlands den eignen
Interessen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach
Apulien hin dienstbar zu machen. Das aus einer irrigen Vor¬
stellung entspringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aus¬
sprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernstes und ge¬
schäftliches, dessen Inangriffnahme durch mich gewünscht wurde.
Mein Einwand, anknüpfend an die Coexistenz der Könige von
Bayern, Sachsen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in
Germanien oder Könige der Deutschen führte zu meiner Ueber¬
raschung auf die weitre Consequenz, daß die genannten Dynastien
aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den
herzoglichen anzunehmen. Ich sprach die Ueberzeugung aus, daß
sie sich dazu gutwillig nicht verstehn würden. Wollte man da¬
gegen Gewalt anwenden, so würde dergleichen Jahrhunderte hin¬

1) S. o. S. 57.

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
ein Neutrum bleiben, ‚das Präſidium‘? In dem Ausdrucke ‚Präſi¬
dium‘ liegt eine Abſtraction, in dem Worte ‚Kaiſer‘ eine große
Schwungkraft“1).

Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den
Kaiſertitel herzuſtellen, welches nicht einer preußiſch-dynaſtiſchen
Eitelkeit, ſondern allein dem Glauben an ſeine Nützlichkeit für
Förderung der nationalen Einheit entſprang, im Anfange der gün¬
ſtigen Wendung des Krieges nicht immer Anklang gefunden. Seine
Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politiſchen Phantaſten,
denen er ſein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbſchaft
des von Karl dem Großen wiedererweckten „römiſchen“ Kaiſer¬
thums ſei das Unglück Deutſchlands geweſen, ein ausländiſcher, für
die Nation ungeſunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch
geſchichtlich ſein mag, ſo unpraktiſch war die Bürgſchaft gegen
analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel
„König“ der Deutſchen ſahen. Es lag heut zu Tage keine Gefahr
vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnerung des Volkes
lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutſchlands den eignen
Intereſſen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach
Apulien hin dienſtbar zu machen. Das aus einer irrigen Vor¬
ſtellung entſpringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aus¬
ſprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernſtes und ge¬
ſchäftliches, deſſen Inangriffnahme durch mich gewünſcht wurde.
Mein Einwand, anknüpfend an die Coexiſtenz der Könige von
Bayern, Sachſen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in
Germanien oder Könige der Deutſchen führte zu meiner Ueber¬
raſchung auf die weitre Conſequenz, daß die genannten Dynaſtien
aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den
herzoglichen anzunehmen. Ich ſprach die Ueberzeugung aus, daß
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gegen Gewalt anwenden, ſo würde dergleichen Jahrhunderte hin¬

1) S. o. S. 57.
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[116/0140] Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles. ein Neutrum bleiben, ‚das Präſidium‘? In dem Ausdrucke ‚Präſi¬ dium‘ liegt eine Abſtraction, in dem Worte ‚Kaiſer‘ eine große Schwungkraft“ 1). Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den Kaiſertitel herzuſtellen, welches nicht einer preußiſch-dynaſtiſchen Eitelkeit, ſondern allein dem Glauben an ſeine Nützlichkeit für Förderung der nationalen Einheit entſprang, im Anfange der gün¬ ſtigen Wendung des Krieges nicht immer Anklang gefunden. Seine Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politiſchen Phantaſten, denen er ſein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbſchaft des von Karl dem Großen wiedererweckten „römiſchen“ Kaiſer¬ thums ſei das Unglück Deutſchlands geweſen, ein ausländiſcher, für die Nation ungeſunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch geſchichtlich ſein mag, ſo unpraktiſch war die Bürgſchaft gegen analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel „König“ der Deutſchen ſahen. Es lag heut zu Tage keine Gefahr vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnerung des Volkes lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutſchlands den eignen Intereſſen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach Apulien hin dienſtbar zu machen. Das aus einer irrigen Vor¬ ſtellung entſpringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aus¬ ſprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernſtes und ge¬ ſchäftliches, deſſen Inangriffnahme durch mich gewünſcht wurde. Mein Einwand, anknüpfend an die Coexiſtenz der Könige von Bayern, Sachſen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in Germanien oder Könige der Deutſchen führte zu meiner Ueber¬ raſchung auf die weitre Conſequenz, daß die genannten Dynaſtien aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den herzoglichen anzunehmen. Ich ſprach die Ueberzeugung aus, daß ſie ſich dazu gutwillig nicht verſtehn würden. Wollte man da¬ gegen Gewalt anwenden, ſo würde dergleichen Jahrhunderte hin¬ 1) S. o. S. 57.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/140>, abgerufen am 27.11.2024.