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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles.
Humanität des Aushungerns nur Empfindsamkeit und nicht auch
politische Berechnung im Spiele war. England hatte kein
praktisches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung
und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirth¬
schaftlich noch politisch. Jedenfalls vermehrte die Verschleppung
der Ueberwältigung von Paris und des Abschlusses der kriegerischen
Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unsrer Siege uns
verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin
ließen erkennen, daß in den sachkundigen Kreisen der Stillstand
unsrer Thätigkeit Besorgniß und Unzufriedenheit erregte, und
daß man der Königin Augusta einen brieflichen Einfluß auf
ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuschrieb. Eine An¬
deutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte
einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne,
daß die Gerüchte unbegründet seien, sondern in einer scharfen
Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verstimmung gegen
die Königin.

Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung
ging in der Regel nicht von dem Könige aus, sondern von
dem Generalstabe der Armee oder des Höchstcommandirenden am
Orte, des Kronprinzen. Daß diese Kreise englischen Auffassungen,
wenn sie sich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich
waren, war menschlich natürlich: die Kronprinzessin, die verstorbene
Frau Moltkes, die Frau des Generalstabschefs, spätern Feldmar¬
schalls, Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächst ma߬
gebenden Generalstabsoffiziers von Gottberg waren sämmtlich Eng¬
länderinnen.

Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über
die die Wissenden Schweigen beobachtet hatten, sind durch die
in der "Deutschen Revue" von 1891 erfolgten Veröffentlichungen
aus den Papieren des Grafen Roon1) Gegenstand publicistischer Er¬

1) Ausgabe in Buchform III 4 243 ff.

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Humanität des Aushungerns nur Empfindſamkeit und nicht auch
politiſche Berechnung im Spiele war. England hatte kein
praktiſches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung
und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirth¬
ſchaftlich noch politiſch. Jedenfalls vermehrte die Verſchleppung
der Ueberwältigung von Paris und des Abſchluſſes der kriegeriſchen
Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unſrer Siege uns
verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin
ließen erkennen, daß in den ſachkundigen Kreiſen der Stillſtand
unſrer Thätigkeit Beſorgniß und Unzufriedenheit erregte, und
daß man der Königin Auguſta einen brieflichen Einfluß auf
ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuſchrieb. Eine An¬
deutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte
einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne,
daß die Gerüchte unbegründet ſeien, ſondern in einer ſcharfen
Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verſtimmung gegen
die Königin.

Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung
ging in der Regel nicht von dem Könige aus, ſondern von
dem Generalſtabe der Armee oder des Höchſtcommandirenden am
Orte, des Kronprinzen. Daß dieſe Kreiſe engliſchen Auffaſſungen,
wenn ſie ſich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich
waren, war menſchlich natürlich: die Kronprinzeſſin, die verſtorbene
Frau Moltkes, die Frau des Generalſtabschefs, ſpätern Feldmar¬
ſchalls, Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächſt ma߬
gebenden Generalſtabsoffiziers von Gottberg waren ſämmtlich Eng¬
länderinnen.

Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über
die die Wiſſenden Schweigen beobachtet hatten, ſind durch die
in der „Deutſchen Revue“ von 1891 erfolgten Veröffentlichungen
aus den Papieren des Grafen Roon1) Gegenſtand publiciſtiſcher Er¬

1) Ausgabe in Buchform III 4 243 ff.
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[114/0138] Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles. Humanität des Aushungerns nur Empfindſamkeit und nicht auch politiſche Berechnung im Spiele war. England hatte kein praktiſches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirth¬ ſchaftlich noch politiſch. Jedenfalls vermehrte die Verſchleppung der Ueberwältigung von Paris und des Abſchluſſes der kriegeriſchen Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unſrer Siege uns verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin ließen erkennen, daß in den ſachkundigen Kreiſen der Stillſtand unſrer Thätigkeit Beſorgniß und Unzufriedenheit erregte, und daß man der Königin Auguſta einen brieflichen Einfluß auf ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuſchrieb. Eine An¬ deutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne, daß die Gerüchte unbegründet ſeien, ſondern in einer ſcharfen Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verſtimmung gegen die Königin. Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung ging in der Regel nicht von dem Könige aus, ſondern von dem Generalſtabe der Armee oder des Höchſtcommandirenden am Orte, des Kronprinzen. Daß dieſe Kreiſe engliſchen Auffaſſungen, wenn ſie ſich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich waren, war menſchlich natürlich: die Kronprinzeſſin, die verſtorbene Frau Moltkes, die Frau des Generalſtabschefs, ſpätern Feldmar¬ ſchalls, Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächſt ma߬ gebenden Generalſtabsoffiziers von Gottberg waren ſämmtlich Eng¬ länderinnen. Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über die die Wiſſenden Schweigen beobachtet hatten, ſind durch die in der „Deutſchen Revue“ von 1891 erfolgten Veröffentlichungen aus den Papieren des Grafen Roon 1) Gegenſtand publiciſtiſcher Er¬ 1) Ausgabe in Buchform III 4 243 ff.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/138>, abgerufen am 23.11.2024.