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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Mangel an schwerem Geschütz. Constitutionelle u. humanitäre Bedenken.
erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundes¬
kasse anzuweisen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als
ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Ge¬
schütze verwenden wolle. Er gab die entsprechenden Aufträge, und
die in unserm Lager lange mit schmerzlicher Ungeduld erwartete und
mit Jubel begrüßte Beschießung des Mont Avron war das Ergebniß
dieser wesentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige
Unterstützung fand er für das Heranschaffen und die Verwendung
der Geschütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe.

Wenn man sich fragt, was andre Generale bestimmt
haben kann, die Ansicht Roons zu bekämpfen, so wird es schwer,
sachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende
ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militärischen wie
von dem politischen Standpunkte erscheint das zögernde Vorgehn
widersinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Un¬
entschlossenheit unsrer Heeresleitung zu suchen waren, darf man
aus der raschen und entschlossenen Führung des Krieges bis vor
Paris schließen. Die Vorstellung, daß Paris, obwohl es befestigt
und das stärkste Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre
Festung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Um¬
wege über Berlin in unser Lager gekommen, mit der Redensart
von dem "Mekka der Civilisation" und andern in dem cant der
öffentlichen Meinung in England üblichen und wirksamen Wen¬
dungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von
allen andern Mächten erwartet, aber seinen eignen Gegnern nicht
immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unsern ma߬
gebenden Kreisen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris
nicht durch Geschütze, sondern nur durch Hunger herbeigeführt werden
dürfe. Ob der letztre Weg der menschlichere war, darüber kann
man streiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Aus¬
bruch gekommen sein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Frei¬
werden der anarchischen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahin¬
gestellt bleiben, ob bei der englischen Einwirkung zu Gunsten der

Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II 8

Mangel an ſchwerem Geſchütz. Conſtitutionelle u. humanitäre Bedenken.
erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundes¬
kaſſe anzuweiſen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als
ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Ge¬
ſchütze verwenden wolle. Er gab die entſprechenden Aufträge, und
die in unſerm Lager lange mit ſchmerzlicher Ungeduld erwartete und
mit Jubel begrüßte Beſchießung des Mont Avron war das Ergebniß
dieſer weſentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige
Unterſtützung fand er für das Heranſchaffen und die Verwendung
der Geſchütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe.

Wenn man ſich fragt, was andre Generale beſtimmt
haben kann, die Anſicht Roons zu bekämpfen, ſo wird es ſchwer,
ſachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende
ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militäriſchen wie
von dem politiſchen Standpunkte erſcheint das zögernde Vorgehn
widerſinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Un¬
entſchloſſenheit unſrer Heeresleitung zu ſuchen waren, darf man
aus der raſchen und entſchloſſenen Führung des Krieges bis vor
Paris ſchließen. Die Vorſtellung, daß Paris, obwohl es befeſtigt
und das ſtärkſte Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre
Feſtung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Um¬
wege über Berlin in unſer Lager gekommen, mit der Redensart
von dem „Mekka der Civiliſation“ und andern in dem cant der
öffentlichen Meinung in England üblichen und wirkſamen Wen¬
dungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von
allen andern Mächten erwartet, aber ſeinen eignen Gegnern nicht
immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unſern ma߬
gebenden Kreiſen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris
nicht durch Geſchütze, ſondern nur durch Hunger herbeigeführt werden
dürfe. Ob der letztre Weg der menſchlichere war, darüber kann
man ſtreiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Aus¬
bruch gekommen ſein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Frei¬
werden der anarchiſchen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahin¬
geſtellt bleiben, ob bei der engliſchen Einwirkung zu Gunſten der

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[113/0137] Mangel an ſchwerem Geſchütz. Conſtitutionelle u. humanitäre Bedenken. erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundes¬ kaſſe anzuweiſen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Ge¬ ſchütze verwenden wolle. Er gab die entſprechenden Aufträge, und die in unſerm Lager lange mit ſchmerzlicher Ungeduld erwartete und mit Jubel begrüßte Beſchießung des Mont Avron war das Ergebniß dieſer weſentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige Unterſtützung fand er für das Heranſchaffen und die Verwendung der Geſchütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe. Wenn man ſich fragt, was andre Generale beſtimmt haben kann, die Anſicht Roons zu bekämpfen, ſo wird es ſchwer, ſachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militäriſchen wie von dem politiſchen Standpunkte erſcheint das zögernde Vorgehn widerſinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Un¬ entſchloſſenheit unſrer Heeresleitung zu ſuchen waren, darf man aus der raſchen und entſchloſſenen Führung des Krieges bis vor Paris ſchließen. Die Vorſtellung, daß Paris, obwohl es befeſtigt und das ſtärkſte Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre Feſtung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Um¬ wege über Berlin in unſer Lager gekommen, mit der Redensart von dem „Mekka der Civiliſation“ und andern in dem cant der öffentlichen Meinung in England üblichen und wirkſamen Wen¬ dungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von allen andern Mächten erwartet, aber ſeinen eignen Gegnern nicht immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unſern ma߬ gebenden Kreiſen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris nicht durch Geſchütze, ſondern nur durch Hunger herbeigeführt werden dürfe. Ob der letztre Weg der menſchlichere war, darüber kann man ſtreiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Aus¬ bruch gekommen ſein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Frei¬ werden der anarchiſchen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahin¬ geſtellt bleiben, ob bei der engliſchen Einwirkung zu Gunſten der Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II 8

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/137>, abgerufen am 23.11.2024.