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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles.
Kaiser nicht ihn, sondern den Grafen Schuwalow als Haupt¬
bevollmächtigten ernannt hatte, so daß nur dieser und nicht Gor¬
tschakow über die russische Stimme verfügte. Gortschakow hatte
seine Mitgliedschaft des Congresses dem Kaiser gegenüber gewisser¬
maßen erzwungen, was in Folge der rücksichtsvollen Behandlung,
die im russischen höhern Dienste verdienten Staatsmännern gegen¬
über Tradition ist, gelingen konnte. Er suchte noch auf dem
Congresse seine russische Popularität im Sinne der Moskauer
Zeitung nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen
russischer Concessionen, und bei Congreßsitzungen, wo solche in
Aussicht standen, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohl¬
seins, trug aber Sorge, sich am Parterrefenster seiner Wohnung,
unter den Linden, als gesund sehn zu lassen. Er wollte sich die
Möglichkeit wahren, vor der russischen "Gesellschaft" in Zukunft
zu behaupten, daß er an den russischen Concessionen unschuldig
wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Kosten seines Landes.

Außerdem blieb der russische Abschluß auch nach dem Congresse
immer noch einer der günstigsten, wo nicht der günstigste, den Ru߬
land jemals nach türkischen Kriegen gemacht hat. Directe Erobe¬
rungen für Rußland waren die in Kleinasien, Batum, Kars u. s. w.
Aber wenn Rußland wirklich es in seinen Interessen gefunden hat,
die Balkanstaaten griechischer Confession von der türkischen Herr¬
schaft zu emancipiren, so war doch auch in dieser Richtung ein
ganz gewaltiger Fortschritt des griechisch-christlichen Elements, und
noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrschaft das Er¬
gebniß. Zwischen den ursprünglichen, Ignatieffschen Friedens¬
bedingungen von San Stefano und dem Congreßergebnisse war
der Unterschied politisch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Ab¬
falls Südbulgariens und dessen Anschluß an das nördliche beweist.
Und selbst wenn er nicht stattgefunden hätte, blieb die russische
Gesammterrungenschaft nach dem Kriege auch in Folge der Con¬
greßbeschlüsse eine glänzendere als die frühern.

Daß Rußland Bulgarien durch Verleihung an den Neffen der

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Kaiſer nicht ihn, ſondern den Grafen Schuwalow als Haupt¬
bevollmächtigten ernannt hatte, ſo daß nur dieſer und nicht Gor¬
tſchakow über die ruſſiſche Stimme verfügte. Gortſchakow hatte
ſeine Mitgliedſchaft des Congreſſes dem Kaiſer gegenüber gewiſſer¬
maßen erzwungen, was in Folge der rückſichtsvollen Behandlung,
die im ruſſiſchen höhern Dienſte verdienten Staatsmännern gegen¬
über Tradition iſt, gelingen konnte. Er ſuchte noch auf dem
Congreſſe ſeine ruſſiſche Popularität im Sinne der Moskauer
Zeitung nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen
ruſſiſcher Conceſſionen, und bei Congreßſitzungen, wo ſolche in
Ausſicht ſtanden, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohl¬
ſeins, trug aber Sorge, ſich am Parterrefenſter ſeiner Wohnung,
unter den Linden, als geſund ſehn zu laſſen. Er wollte ſich die
Möglichkeit wahren, vor der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ in Zukunft
zu behaupten, daß er an den ruſſiſchen Conceſſionen unſchuldig
wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Koſten ſeines Landes.

Außerdem blieb der ruſſiſche Abſchluß auch nach dem Congreſſe
immer noch einer der günſtigſten, wo nicht der günſtigſte, den Ru߬
land jemals nach türkiſchen Kriegen gemacht hat. Directe Erobe¬
rungen für Rußland waren die in Kleinaſien, Batum, Kars u. ſ. w.
Aber wenn Rußland wirklich es in ſeinen Intereſſen gefunden hat,
die Balkanſtaaten griechiſcher Confeſſion von der türkiſchen Herr¬
ſchaft zu emancipiren, ſo war doch auch in dieſer Richtung ein
ganz gewaltiger Fortſchritt des griechiſch-chriſtlichen Elements, und
noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrſchaft das Er¬
gebniß. Zwiſchen den urſprünglichen, Ignatieffſchen Friedens¬
bedingungen von San Stefano und dem Congreßergebniſſe war
der Unterſchied politiſch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Ab¬
falls Südbulgariens und deſſen Anſchluß an das nördliche beweiſt.
Und ſelbſt wenn er nicht ſtattgefunden hätte, blieb die ruſſiſche
Geſammterrungenſchaft nach dem Kriege auch in Folge der Con¬
greßbeſchlüſſe eine glänzendere als die frühern.

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[106/0130] Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles. Kaiſer nicht ihn, ſondern den Grafen Schuwalow als Haupt¬ bevollmächtigten ernannt hatte, ſo daß nur dieſer und nicht Gor¬ tſchakow über die ruſſiſche Stimme verfügte. Gortſchakow hatte ſeine Mitgliedſchaft des Congreſſes dem Kaiſer gegenüber gewiſſer¬ maßen erzwungen, was in Folge der rückſichtsvollen Behandlung, die im ruſſiſchen höhern Dienſte verdienten Staatsmännern gegen¬ über Tradition iſt, gelingen konnte. Er ſuchte noch auf dem Congreſſe ſeine ruſſiſche Popularität im Sinne der Moskauer Zeitung nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen ruſſiſcher Conceſſionen, und bei Congreßſitzungen, wo ſolche in Ausſicht ſtanden, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohl¬ ſeins, trug aber Sorge, ſich am Parterrefenſter ſeiner Wohnung, unter den Linden, als geſund ſehn zu laſſen. Er wollte ſich die Möglichkeit wahren, vor der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ in Zukunft zu behaupten, daß er an den ruſſiſchen Conceſſionen unſchuldig wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Koſten ſeines Landes. Außerdem blieb der ruſſiſche Abſchluß auch nach dem Congreſſe immer noch einer der günſtigſten, wo nicht der günſtigſte, den Ru߬ land jemals nach türkiſchen Kriegen gemacht hat. Directe Erobe¬ rungen für Rußland waren die in Kleinaſien, Batum, Kars u. ſ. w. Aber wenn Rußland wirklich es in ſeinen Intereſſen gefunden hat, die Balkanſtaaten griechiſcher Confeſſion von der türkiſchen Herr¬ ſchaft zu emancipiren, ſo war doch auch in dieſer Richtung ein ganz gewaltiger Fortſchritt des griechiſch-chriſtlichen Elements, und noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrſchaft das Er¬ gebniß. Zwiſchen den urſprünglichen, Ignatieffſchen Friedens¬ bedingungen von San Stefano und dem Congreßergebniſſe war der Unterſchied politiſch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Ab¬ falls Südbulgariens und deſſen Anſchluß an das nördliche beweiſt. Und ſelbſt wenn er nicht ſtattgefunden hätte, blieb die ruſſiſche Geſammterrungenſchaft nach dem Kriege auch in Folge der Con¬ greßbeſchlüſſe eine glänzendere als die frühern. Daß Rußland Bulgarien durch Verleihung an den Neffen der

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/130>, abgerufen am 23.11.2024.