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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
nicht, aber meine Zuversicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube
noch heut, daß die Chancen für eine wünschenswerthe Lösung der
damaligen Krisis noch besser geworden wären, wenn vorher die
badische Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch
eines Theils der bairischen und würtembergischen Truppen ver¬
stärkt worden wäre. Freilich würden sie auch dann vielleicht un¬
benutzt geblieben sein.

Ich lasse unentschieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit
der damals den ernsten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln
nur finanzielle Minister-Aengstlichkeiten oder dynastische Gewissens¬
bedenken und Unentschlossenheit an höchster Stelle Schuld waren,
oder ob in amtlichen Kreisen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie
die, welche in den Märztagen bei Bodelschwingh und Andern die
richtige Lösung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König
in dem Maße, in dem er sich wieder mächtig und sorgenfrei fühlen
würde, auch eine absolutistische Richtung einschlagen könnte. Ich
erinnere mich, diese Besorgniß bei höhern Beamten und in
liberalen Hofkreisen wahrgenommen zu haben.

Unbeantwortet ist die Frage geblieben, ob der Einfluß des
Generals von Radowitz aus katholisirenden Gründen in einer auf
den König wirksamen Gestalt verwendet worden ist, um das
evangelische Preußen an der Wahrnehmung der günstigen Gelegen¬
heit zu hindern und den König über dieselbe hinweg zu täuschen.
Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholisirender Gegner Preu¬
ßens war oder nur bestrebt, seine Stellung bei dem Könige zu
halten*) . Gewiß ist, daß er den geschickten Garderobier der

*) Der General von Gerlach hat im August 1850 niedergeschrieben
(Denkwürdigkeiten I 514):
"Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen:
1) seinem scheinbar scharf logisch-mathematischen Raisonnement, bei dem seine
gedankenlose Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerspruch mit dem
Könige zu vermeiden. Nun sieht der König in dieser seinem Ideengange ganz
entgegensetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er sich zusammen¬

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
nicht, aber meine Zuverſicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube
noch heut, daß die Chancen für eine wünſchenswerthe Löſung der
damaligen Kriſis noch beſſer geworden wären, wenn vorher die
badiſche Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch
eines Theils der bairiſchen und würtembergiſchen Truppen ver¬
ſtärkt worden wäre. Freilich würden ſie auch dann vielleicht un¬
benutzt geblieben ſein.

Ich laſſe unentſchieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit
der damals den ernſten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln
nur finanzielle Miniſter-Aengſtlichkeiten oder dynaſtiſche Gewiſſens¬
bedenken und Unentſchloſſenheit an höchſter Stelle Schuld waren,
oder ob in amtlichen Kreiſen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie
die, welche in den Märztagen bei Bodelſchwingh und Andern die
richtige Löſung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König
in dem Maße, in dem er ſich wieder mächtig und ſorgenfrei fühlen
würde, auch eine abſolutiſtiſche Richtung einſchlagen könnte. Ich
erinnere mich, dieſe Beſorgniß bei höhern Beamten und in
liberalen Hofkreiſen wahrgenommen zu haben.

Unbeantwortet iſt die Frage geblieben, ob der Einfluß des
Generals von Radowitz aus katholiſirenden Gründen in einer auf
den König wirkſamen Geſtalt verwendet worden iſt, um das
evangeliſche Preußen an der Wahrnehmung der günſtigen Gelegen¬
heit zu hindern und den König über dieſelbe hinweg zu täuſchen.
Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholiſirender Gegner Preu¬
ßens war oder nur beſtrebt, ſeine Stellung bei dem Könige zu
halten*) . Gewiß iſt, daß er den geſchickten Garderobier der

*) Der General von Gerlach hat im Auguſt 1850 niedergeſchrieben
(Denkwürdigkeiten I 514):
„Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen:
1) ſeinem ſcheinbar ſcharf logiſch-mathematiſchen Raiſonnement, bei dem ſeine
gedankenloſe Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerſpruch mit dem
Könige zu vermeiden. Nun ſieht der König in dieſer ſeinem Ideengange ganz
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[64/0091] Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden. nicht, aber meine Zuverſicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube noch heut, daß die Chancen für eine wünſchenswerthe Löſung der damaligen Kriſis noch beſſer geworden wären, wenn vorher die badiſche Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch eines Theils der bairiſchen und würtembergiſchen Truppen ver¬ ſtärkt worden wäre. Freilich würden ſie auch dann vielleicht un¬ benutzt geblieben ſein. Ich laſſe unentſchieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit der damals den ernſten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln nur finanzielle Miniſter-Aengſtlichkeiten oder dynaſtiſche Gewiſſens¬ bedenken und Unentſchloſſenheit an höchſter Stelle Schuld waren, oder ob in amtlichen Kreiſen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie die, welche in den Märztagen bei Bodelſchwingh und Andern die richtige Löſung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König in dem Maße, in dem er ſich wieder mächtig und ſorgenfrei fühlen würde, auch eine abſolutiſtiſche Richtung einſchlagen könnte. Ich erinnere mich, dieſe Beſorgniß bei höhern Beamten und in liberalen Hofkreiſen wahrgenommen zu haben. Unbeantwortet iſt die Frage geblieben, ob der Einfluß des Generals von Radowitz aus katholiſirenden Gründen in einer auf den König wirkſamen Geſtalt verwendet worden iſt, um das evangeliſche Preußen an der Wahrnehmung der günſtigen Gelegen¬ heit zu hindern und den König über dieſelbe hinweg zu täuſchen. Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholiſirender Gegner Preu¬ ßens war oder nur beſtrebt, ſeine Stellung bei dem Könige zu halten *) . Gewiß iſt, daß er den geſchickten Garderobier der *) Der General von Gerlach hat im Auguſt 1850 niedergeſchrieben (Denkwürdigkeiten I 514): „Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen: 1) ſeinem ſcheinbar ſcharf logiſch-mathematiſchen Raiſonnement, bei dem ſeine gedankenloſe Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerſpruch mit dem Könige zu vermeiden. Nun ſieht der König in dieſer ſeinem Ideengange ganz entgegenſetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er ſich zuſammen¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/91>, abgerufen am 24.11.2024.