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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Erstes Kapitel: Bis zum Ersten Vereinigten Landtage.
indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den
Krieg gegangen wären, um eine Verfassung zu erlangen, und meiner
naturwüchsigen Entrüstung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬
herrschaft an sich kein genügender Grund zum Kampfe gewesen sein
solle1). Mir schien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß sie
sich selbst befreit habe, dem Könige eine in Verfassungsparagraphen
zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen
Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer
dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm sich aus¬
getobt hatte, meine Rede zu Ende.

Bei den Hoffestlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬
tags stattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzessin
von Preußen in augenfälliger Weise gemieden, jedoch aus ver¬
schiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch
populär war, von dem erstern aus einem Grunde, der mir erst
später klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied,
mit mir zu sprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe
nach jeden angeredet hatte, abbrach, sobald er an mich kam, um¬
kehrte oder quer durch den Saal abschwenkte: so glaubte ich an¬
nehmen zu müssen, daß meine Haltung als royalistischer Heißsporn
die Grenzen überschritt, die er sich gesteckt hatte. Daß diese Aus¬
legung unrichtig, erkannte ich erst einige Monate später, als ich
auf meiner Hochzeitsreise Venedig berührte. Der König, der mich
im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz
und zur Tafel, mir so unerwartet, daß mein leichtes Reisegepäck
und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬
lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erscheinen. Mein Empfang
war ein so wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬
schem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner
Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl
mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geschah.

1) Politische Reden, Cotta'sche Ausgabe I 9.

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den
Krieg gegangen wären, um eine Verfaſſung zu erlangen, und meiner
naturwüchſigen Entrüſtung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬
herrſchaft an ſich kein genügender Grund zum Kampfe geweſen ſein
ſolle1). Mir ſchien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß ſie
ſich ſelbſt befreit habe, dem Könige eine in Verfaſſungsparagraphen
zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen
Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer
dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm ſich aus¬
getobt hatte, meine Rede zu Ende.

Bei den Hoffeſtlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬
tags ſtattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzeſſin
von Preußen in augenfälliger Weiſe gemieden, jedoch aus ver¬
ſchiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch
populär war, von dem erſtern aus einem Grunde, der mir erſt
ſpäter klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied,
mit mir zu ſprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe
nach jeden angeredet hatte, abbrach, ſobald er an mich kam, um¬
kehrte oder quer durch den Saal abſchwenkte: ſo glaubte ich an¬
nehmen zu müſſen, daß meine Haltung als royaliſtiſcher Heißſporn
die Grenzen überſchritt, die er ſich geſteckt hatte. Daß dieſe Aus¬
legung unrichtig, erkannte ich erſt einige Monate ſpäter, als ich
auf meiner Hochzeitsreiſe Venedig berührte. Der König, der mich
im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz
und zur Tafel, mir ſo unerwartet, daß mein leichtes Reiſegepäck
und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬
lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erſcheinen. Mein Empfang
war ein ſo wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬
ſchem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner
Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl
mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geſchah.

1) Politiſche Reden, Cotta'ſche Ausgabe I 9.
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[18/0045] Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den Krieg gegangen wären, um eine Verfaſſung zu erlangen, und meiner naturwüchſigen Entrüſtung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬ herrſchaft an ſich kein genügender Grund zum Kampfe geweſen ſein ſolle 1). Mir ſchien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß ſie ſich ſelbſt befreit habe, dem Könige eine in Verfaſſungsparagraphen zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm ſich aus¬ getobt hatte, meine Rede zu Ende. Bei den Hoffeſtlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬ tags ſtattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzeſſin von Preußen in augenfälliger Weiſe gemieden, jedoch aus ver¬ ſchiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch populär war, von dem erſtern aus einem Grunde, der mir erſt ſpäter klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied, mit mir zu ſprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe nach jeden angeredet hatte, abbrach, ſobald er an mich kam, um¬ kehrte oder quer durch den Saal abſchwenkte: ſo glaubte ich an¬ nehmen zu müſſen, daß meine Haltung als royaliſtiſcher Heißſporn die Grenzen überſchritt, die er ſich geſteckt hatte. Daß dieſe Aus¬ legung unrichtig, erkannte ich erſt einige Monate ſpäter, als ich auf meiner Hochzeitsreiſe Venedig berührte. Der König, der mich im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz und zur Tafel, mir ſo unerwartet, daß mein leichtes Reiſegepäck und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬ lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erſcheinen. Mein Empfang war ein ſo wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬ ſchem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geſchah. 1) Politiſche Reden, Cotta'ſche Ausgabe I 9.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/45>, abgerufen am 25.11.2024.