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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme.
Umstände der nationalen Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe
ein volles Verständniß für die Anhänglichkeit der heutigen welfischen
Partei an die alte Dynastie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn
ich als Alt-Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich
würde auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deut¬
schen Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern,
wenn die vis major der Gesammtnationalität meine dynastische
Mannestreue und persönliche Vorliebe schonungslos vernichtete.
Die Aufgabe, mit Anstand zu Grunde zu gehn, fällt in der
Politik, und nicht blos in der deutschen, auch andern und stärker
berechtigten Gemüthsregungen zu, und die Unfähigkeit, sie zu er¬
füllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche die kur¬
braunschweigische Vasallentreue mir einflößt. Ich sehe in dem
deutschen Nationalgefühl immer die stärkere Kraft überall, wo sie
mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der letztre, auch
der preußische, selbst doch nur entstanden ist in Auflehnung gegen
das gesammtdeutsche Gemeinwesen, gegen Kaiser und Reich, im
Abfall von Beiden, gestützt auf päpstlichen, später französischen, in
der Gesammtheit welfchen Beistand, die alle dem deutschen Gemein¬
wesen gleich schädlich und gefährlich waren. Für die welfischen
Bestrebungen ist für alle Zeit ihr erster Merkstein in der Geschichte,
der Abfall Heinrichs des Löwen vor der Schlacht bei Legnano,
entscheidend, die Desertion vom Kaiser und Reich im Augenblick
des schwersten und gefährlichsten Kampfes, aus persönlichem und
dynastischem Interesse.

Dynastische Interessen haben in Deutschland insoweit eine Be¬
rechtigung, als sie sich dem allgemeinen nationalen Reichsinteresse
anpassen; sie können mit diesem sehr wohl Hand in Hand gehn,
und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne ist dem Ganzen unter
Umständen nützlicher als direkte Beziehungen des Kaisers zu den
herzoglichen Hintersassen. So weit aber die dynastischen Inter¬
essen uns mit neuer Zersplitterung und Ohnmacht der Nation
bedrohn sollten, müßten sie auf ihr richtiges Maß zurückgeführt

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
Umſtände der nationalen Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe
ein volles Verſtändniß für die Anhänglichkeit der heutigen welfiſchen
Partei an die alte Dynaſtie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn
ich als Alt-Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich
würde auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deut¬
ſchen Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern,
wenn die vis major der Geſammtnationalität meine dynaſtiſche
Mannestreue und perſönliche Vorliebe ſchonungslos vernichtete.
Die Aufgabe, mit Anſtand zu Grunde zu gehn, fällt in der
Politik, und nicht blos in der deutſchen, auch andern und ſtärker
berechtigten Gemüthsregungen zu, und die Unfähigkeit, ſie zu er¬
füllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche die kur¬
braunſchweigiſche Vaſallentreue mir einflößt. Ich ſehe in dem
deutſchen Nationalgefühl immer die ſtärkere Kraft überall, wo ſie
mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der letztre, auch
der preußiſche, ſelbſt doch nur entſtanden iſt in Auflehnung gegen
das geſammtdeutſche Gemeinweſen, gegen Kaiſer und Reich, im
Abfall von Beiden, geſtützt auf päpſtlichen, ſpäter franzöſiſchen, in
der Geſammtheit welfchen Beiſtand, die alle dem deutſchen Gemein¬
weſen gleich ſchädlich und gefährlich waren. Für die welfiſchen
Beſtrebungen iſt für alle Zeit ihr erſter Merkſtein in der Geſchichte,
der Abfall Heinrichs des Löwen vor der Schlacht bei Legnano,
entſcheidend, die Deſertion vom Kaiſer und Reich im Augenblick
des ſchwerſten und gefährlichſten Kampfes, aus perſönlichem und
dynaſtiſchem Intereſſe.

Dynaſtiſche Intereſſen haben in Deutſchland inſoweit eine Be¬
rechtigung, als ſie ſich dem allgemeinen nationalen Reichsintereſſe
anpaſſen; ſie können mit dieſem ſehr wohl Hand in Hand gehn,
und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne iſt dem Ganzen unter
Umſtänden nützlicher als direkte Beziehungen des Kaiſers zu den
herzoglichen Hinterſaſſen. So weit aber die dynaſtiſchen Inter¬
eſſen uns mit neuer Zerſplitterung und Ohnmacht der Nation
bedrohn ſollten, müßten ſie auf ihr richtiges Maß zurückgeführt

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[294/0321] Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme. Umſtände der nationalen Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe ein volles Verſtändniß für die Anhänglichkeit der heutigen welfiſchen Partei an die alte Dynaſtie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn ich als Alt-Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich würde auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deut¬ ſchen Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern, wenn die vis major der Geſammtnationalität meine dynaſtiſche Mannestreue und perſönliche Vorliebe ſchonungslos vernichtete. Die Aufgabe, mit Anſtand zu Grunde zu gehn, fällt in der Politik, und nicht blos in der deutſchen, auch andern und ſtärker berechtigten Gemüthsregungen zu, und die Unfähigkeit, ſie zu er¬ füllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche die kur¬ braunſchweigiſche Vaſallentreue mir einflößt. Ich ſehe in dem deutſchen Nationalgefühl immer die ſtärkere Kraft überall, wo ſie mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der letztre, auch der preußiſche, ſelbſt doch nur entſtanden iſt in Auflehnung gegen das geſammtdeutſche Gemeinweſen, gegen Kaiſer und Reich, im Abfall von Beiden, geſtützt auf päpſtlichen, ſpäter franzöſiſchen, in der Geſammtheit welfchen Beiſtand, die alle dem deutſchen Gemein¬ weſen gleich ſchädlich und gefährlich waren. Für die welfiſchen Beſtrebungen iſt für alle Zeit ihr erſter Merkſtein in der Geſchichte, der Abfall Heinrichs des Löwen vor der Schlacht bei Legnano, entſcheidend, die Deſertion vom Kaiſer und Reich im Augenblick des ſchwerſten und gefährlichſten Kampfes, aus perſönlichem und dynaſtiſchem Intereſſe. Dynaſtiſche Intereſſen haben in Deutſchland inſoweit eine Be¬ rechtigung, als ſie ſich dem allgemeinen nationalen Reichsintereſſe anpaſſen; ſie können mit dieſem ſehr wohl Hand in Hand gehn, und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne iſt dem Ganzen unter Umſtänden nützlicher als direkte Beziehungen des Kaiſers zu den herzoglichen Hinterſaſſen. So weit aber die dynaſtiſchen Inter¬ eſſen uns mit neuer Zerſplitterung und Ohnmacht der Nation bedrohn ſollten, müßten ſie auf ihr richtiges Maß zurückgeführt

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/321>, abgerufen am 22.11.2024.