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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme.
baren preußischen Nationalstaat verbunden, ohne die Dynastie so
weiter leben würden? Würde Baiern, isolirt gedacht, geschlossen
zusammenhalten, wenn die Wittelsbacher Dynastie spurlos ver¬
schwunden wäre? Einige Dynastien haben manche Erinnerungen,
die nicht grade geeignet sind, die heterogenen Theile, aus denen
diese Staaten geschichtlich gebildet sind, mit Anhänglichkeit zu er¬
füllen. Das Land Schleswig-Holstein hat garkeine dynastische
Erinnerungen, namentlich nicht im anti-gottorpischen Sinne, und
doch hat die Aussicht, einen selbständigen kleinen Hof mit Ministern,
Hofmarschällen und Orden neu bilden zu können, und auf Kosten
der preußischen und östreichischen Bundesleistungen eine kleinstaat¬
liche Existenz zu führen, recht starke particularistische Bewegungen
in den Elbherzogthümern hervorgerufen. Das Großherzogthum
Baden hat seit dem Markgrafen Ludwig vor Belgrad kaum eine
dynastische Erinnerung; das rasche Anwachsen dieses kleinen Fürsten¬
thums unter französischer Protection im Rheinbunde, das Hofleben
der letzten Fürsten der alten Linie, die eheliche Verbindung mit dem
Hause Beauharnais, die Caspar Hauser-Geschichte, die revolutionären
Vorgänge von 1832, die Vertreibung des bürgerfreundlichen Gro߬
herzogs Leopold, die Vertreibung des regirenden Hauses 1849 haben
den Zwang der dynastischen Fügsamkeit im Lande nicht brechen
können, und Baden hat 1866 seinen Krieg gegen Preußen und die
deutsche Idee geführt, weil die dynastischen Interessen des regiren¬
den Hauses es unabweislich machten.

Die andern europäischen Völker bedürfen einer solchen Ver¬
mittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht.
Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzosen würden unter einer
jeden Dynastie oder ganz ohne eine solche ihren einheitlichen Zu¬
sammenhang als Nation bewahren. Die germanischen Stämme
des Nordens, die Schweden und Dänen, haben sich von dynastischer
Sentimentalität ziemlich frei erwiesen, und in England gehört zwar
der äußerliche Respect vor der Krone zu den Erfordernissen der
guten Gesellschaft und wird die formale Erhaltung des König¬

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
baren preußiſchen Nationalſtaat verbunden, ohne die Dynaſtie ſo
weiter leben würden? Würde Baiern, iſolirt gedacht, geſchloſſen
zuſammenhalten, wenn die Wittelsbacher Dynaſtie ſpurlos ver¬
ſchwunden wäre? Einige Dynaſtien haben manche Erinnerungen,
die nicht grade geeignet ſind, die heterogenen Theile, aus denen
dieſe Staaten geſchichtlich gebildet ſind, mit Anhänglichkeit zu er¬
füllen. Das Land Schleswig-Holſtein hat garkeine dynaſtiſche
Erinnerungen, namentlich nicht im anti-gottorpiſchen Sinne, und
doch hat die Ausſicht, einen ſelbſtändigen kleinen Hof mit Miniſtern,
Hofmarſchällen und Orden neu bilden zu können, und auf Koſten
der preußiſchen und öſtreichiſchen Bundesleiſtungen eine kleinſtaat¬
liche Exiſtenz zu führen, recht ſtarke particulariſtiſche Bewegungen
in den Elbherzogthümern hervorgerufen. Das Großherzogthum
Baden hat ſeit dem Markgrafen Ludwig vor Belgrad kaum eine
dynaſtiſche Erinnerung; das raſche Anwachſen dieſes kleinen Fürſten¬
thums unter franzöſiſcher Protection im Rheinbunde, das Hofleben
der letzten Fürſten der alten Linie, die eheliche Verbindung mit dem
Hauſe Beauharnais, die Caſpar Hauſer-Geſchichte, die revolutionären
Vorgänge von 1832, die Vertreibung des bürgerfreundlichen Gro߬
herzogs Leopold, die Vertreibung des regirenden Hauſes 1849 haben
den Zwang der dynaſtiſchen Fügſamkeit im Lande nicht brechen
können, und Baden hat 1866 ſeinen Krieg gegen Preußen und die
deutſche Idee geführt, weil die dynaſtiſchen Intereſſen des regiren¬
den Hauſes es unabweislich machten.

Die andern europäiſchen Völker bedürfen einer ſolchen Ver¬
mittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht.
Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzoſen würden unter einer
jeden Dynaſtie oder ganz ohne eine ſolche ihren einheitlichen Zu¬
ſammenhang als Nation bewahren. Die germaniſchen Stämme
des Nordens, die Schweden und Dänen, haben ſich von dynaſtiſcher
Sentimentalität ziemlich frei erwieſen, und in England gehört zwar
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[292/0319] Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme. baren preußiſchen Nationalſtaat verbunden, ohne die Dynaſtie ſo weiter leben würden? Würde Baiern, iſolirt gedacht, geſchloſſen zuſammenhalten, wenn die Wittelsbacher Dynaſtie ſpurlos ver¬ ſchwunden wäre? Einige Dynaſtien haben manche Erinnerungen, die nicht grade geeignet ſind, die heterogenen Theile, aus denen dieſe Staaten geſchichtlich gebildet ſind, mit Anhänglichkeit zu er¬ füllen. Das Land Schleswig-Holſtein hat garkeine dynaſtiſche Erinnerungen, namentlich nicht im anti-gottorpiſchen Sinne, und doch hat die Ausſicht, einen ſelbſtändigen kleinen Hof mit Miniſtern, Hofmarſchällen und Orden neu bilden zu können, und auf Koſten der preußiſchen und öſtreichiſchen Bundesleiſtungen eine kleinſtaat¬ liche Exiſtenz zu führen, recht ſtarke particulariſtiſche Bewegungen in den Elbherzogthümern hervorgerufen. Das Großherzogthum Baden hat ſeit dem Markgrafen Ludwig vor Belgrad kaum eine dynaſtiſche Erinnerung; das raſche Anwachſen dieſes kleinen Fürſten¬ thums unter franzöſiſcher Protection im Rheinbunde, das Hofleben der letzten Fürſten der alten Linie, die eheliche Verbindung mit dem Hauſe Beauharnais, die Caſpar Hauſer-Geſchichte, die revolutionären Vorgänge von 1832, die Vertreibung des bürgerfreundlichen Gro߬ herzogs Leopold, die Vertreibung des regirenden Hauſes 1849 haben den Zwang der dynaſtiſchen Fügſamkeit im Lande nicht brechen können, und Baden hat 1866 ſeinen Krieg gegen Preußen und die deutſche Idee geführt, weil die dynaſtiſchen Intereſſen des regiren¬ den Hauſes es unabweislich machten. Die andern europäiſchen Völker bedürfen einer ſolchen Ver¬ mittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht. Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzoſen würden unter einer jeden Dynaſtie oder ganz ohne eine ſolche ihren einheitlichen Zu¬ ſammenhang als Nation bewahren. Die germaniſchen Stämme des Nordens, die Schweden und Dänen, haben ſich von dynaſtiſcher Sentimentalität ziemlich frei erwieſen, und in England gehört zwar der äußerliche Reſpect vor der Krone zu den Erforderniſſen der guten Geſellſchaft und wird die formale Erhaltung des König¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/319>, abgerufen am 17.09.2024.