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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik.
Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es sich verfrühter Partei¬
nahme enthalten und seiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche
entsprechend sich lieber en vedette gestellt hätte, anstatt sich das
prestige des Richteramtes zwischen Oestreich, Rußland und der
Pforte beizulegen.

Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der
Ziellosigkeit und Unentschlossenheit gelegen, womit an die Benutzung
und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürst und
Friedrich der Große hatten klare Vorstellungen von der Schäd¬
lichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es sich um Parteinahme
oder um ihre Androhung handelte. So lange Preußen nicht zu
einem der deutschen Nationalität annähernd entsprechenden Staats¬
gebilde gelangt war, so lange es nicht nach dem Ausdruck, dessen
sich der Fürst Metternich mir gegenüber bediente, zu den "saturir¬
ten" Staaten gehörte, mußte es seine Politik mit dem angeführten
Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat
aber eine vedette eine Existenzberechtigung nur mit einer schlag¬
fertigen Truppe hinter sich; ohne eine solche und ohne den Ent¬
schluß, sie activ zu verwenden, sei es für, sei es gegen eine der
streitenden Parteien, konnte die preußische Politik von dem Ein¬
werfen ihres europäischen Gewichtes bei Gelegenheiten wie der von
Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in
Deutschland, sondern nur die Verstimmung und das Mißtrauen
seiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heut erkennt man in ge¬
schichtlichen Urtheilen chauvinistischer Landsleute die Genugthuung,
mit welcher die schiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf
den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußische
Selbstgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als
ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianischer Politik, von
welchem an der Abstieg und das Sinken durch die Pillnitzer Ver¬
handlungen, den Basler Frieden bis nach Tilsit erfolgte.

Wenn ich Minister Friedrich Wilhelms II. gewesen wäre, so
würde ich eher dazu gerathen haben, den Ehrgeiz Oestreichs und

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es ſich verfrühter Partei¬
nahme enthalten und ſeiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche
entſprechend ſich lieber en vedette geſtellt hätte, anſtatt ſich das
prestige des Richteramtes zwiſchen Oeſtreich, Rußland und der
Pforte beizulegen.

Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der
Zielloſigkeit und Unentſchloſſenheit gelegen, womit an die Benutzung
und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürſt und
Friedrich der Große hatten klare Vorſtellungen von der Schäd¬
lichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es ſich um Parteinahme
oder um ihre Androhung handelte. So lange Preußen nicht zu
einem der deutſchen Nationalität annähernd entſprechenden Staats¬
gebilde gelangt war, ſo lange es nicht nach dem Ausdruck, deſſen
ſich der Fürſt Metternich mir gegenüber bediente, zu den „ſaturir¬
ten“ Staaten gehörte, mußte es ſeine Politik mit dem angeführten
Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat
aber eine vedette eine Exiſtenzberechtigung nur mit einer ſchlag¬
fertigen Truppe hinter ſich; ohne eine ſolche und ohne den Ent¬
ſchluß, ſie activ zu verwenden, ſei es für, ſei es gegen eine der
ſtreitenden Parteien, konnte die preußiſche Politik von dem Ein¬
werfen ihres europäiſchen Gewichtes bei Gelegenheiten wie der von
Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in
Deutſchland, ſondern nur die Verſtimmung und das Mißtrauen
ſeiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heut erkennt man in ge¬
ſchichtlichen Urtheilen chauviniſtiſcher Landsleute die Genugthuung,
mit welcher die ſchiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf
den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußiſche
Selbſtgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als
ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianiſcher Politik, von
welchem an der Abſtieg und das Sinken durch die Pillnitzer Ver¬
handlungen, den Basler Frieden bis nach Tilſit erfolgte.

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[272/0299] Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik. Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es ſich verfrühter Partei¬ nahme enthalten und ſeiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche entſprechend ſich lieber en vedette geſtellt hätte, anſtatt ſich das prestige des Richteramtes zwiſchen Oeſtreich, Rußland und der Pforte beizulegen. Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der Zielloſigkeit und Unentſchloſſenheit gelegen, womit an die Benutzung und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürſt und Friedrich der Große hatten klare Vorſtellungen von der Schäd¬ lichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es ſich um Parteinahme oder um ihre Androhung handelte. So lange Preußen nicht zu einem der deutſchen Nationalität annähernd entſprechenden Staats¬ gebilde gelangt war, ſo lange es nicht nach dem Ausdruck, deſſen ſich der Fürſt Metternich mir gegenüber bediente, zu den „ſaturir¬ ten“ Staaten gehörte, mußte es ſeine Politik mit dem angeführten Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat aber eine vedette eine Exiſtenzberechtigung nur mit einer ſchlag¬ fertigen Truppe hinter ſich; ohne eine ſolche und ohne den Ent¬ ſchluß, ſie activ zu verwenden, ſei es für, ſei es gegen eine der ſtreitenden Parteien, konnte die preußiſche Politik von dem Ein¬ werfen ihres europäiſchen Gewichtes bei Gelegenheiten wie der von Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in Deutſchland, ſondern nur die Verſtimmung und das Mißtrauen ſeiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heut erkennt man in ge¬ ſchichtlichen Urtheilen chauviniſtiſcher Landsleute die Genugthuung, mit welcher die ſchiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußiſche Selbſtgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianiſcher Politik, von welchem an der Abſtieg und das Sinken durch die Pillnitzer Ver¬ handlungen, den Basler Frieden bis nach Tilſit erfolgte. Wenn ich Miniſter Friedrich Wilhelms II. geweſen wäre, ſo würde ich eher dazu gerathen haben, den Ehrgeiz Oeſtreichs und

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/299>, abgerufen am 25.11.2024.