Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.Zehntes Kapitel: Petersburg. Erziehung er einen Antheil beanspruchte, war sein Wohlwollen fürmich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte, überschritten die unter Diplomaten zulässige Grenze, vielleicht aus Berechnung, vielleicht aus Ostentation einem Collegen gegenüber, an dessen bewunderndes Verständniß mir gelungen war ihn glauben zu machen. Diese Beziehungen wurden unhaltbar, sobald ich als preußischer Minister ihm die Illusion seiner persönlichen und staat¬ lichen Ueberlegenheit nicht mehr lassen konnte. Hinc irae. Sobald ich selbständig als Deutscher oder Preuße oder als Rival im europäischen Ansehn und in der geschichtlichen Publicistik aufzutreten begann, verwandelte sich sein Wohlwollen in Mißgunst. Ob diese Wandlung erst nach 1870 begann oder ob sie sich Zehntes Kapitel: Petersburg. Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen fürmich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte, überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber, an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬ lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt. Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0251" n="224"/><fw place="top" type="header">Zehntes Kapitel: Petersburg.<lb/></fw> Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für<lb/> mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,<lb/> überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus<lb/> Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber,<lb/> an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben<lb/> zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als<lb/> preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬<lb/> lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. <hi rendition="#aq">Hinc irae</hi>. Sobald<lb/> ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im<lb/> europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten<lb/> begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt.</p><lb/> <p>Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich<lb/> vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich<lb/> dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein<lb/> achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den<lb/> Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung<lb/> zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn<lb/> werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬<lb/> geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen<lb/> zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben<lb/> waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der<lb/> eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer<lb/> unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht<lb/> in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬<lb/> ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh<lb/> ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in<lb/> Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬<lb/> currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen<lb/> uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir<lb/> nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,<lb/> wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die<lb/> Situation fälſchen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0251]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für
mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,
überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus
Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber,
an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben
zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als
preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬
lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald
ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im
europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten
begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt.
Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich
vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich
dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein
achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den
Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung
zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn
werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬
geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen
zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben
waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der
eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer
unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht
in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬
ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh
ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬
currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen
uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir
nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die
Situation fälſchen.
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