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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zehntes Kapitel: Petersburg.
folger. Noch geringer war seine Meinung von der Veranlagung
unsres Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge¬
biete praktischer Politik; er hielt ihn zur Leitung der monarchischen
Trias für so wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger.
Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß
er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer des monarchischen
Widerstandes gegen die von Westen vordringende Revolution zu sein.
Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Isolirung der rus¬
sischen Autokratie, und es ist wunderbar genug, daß er sich unter
allen Eindrücken, von den Decabristen an durch alle folgenden Er¬
lebnisse hindurch, diesen idealen Schwung erhalten hatte.

Wie er über seine Stellung zu seinen Unterthanen empfand,
ergibt sich aus einer Thatsache, die mir Friedrich Wilhelm IV. selbst
erzählt hat. Der Kaiser Nicolaus bat ihn um Zusendung von zwei
Unteroffizieren der preußischen Garde, behufs Ausführung gewisser
ärztlich vorgeschriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten
vorgenommen werden mußten, während dieser auf dem Bauche lag.
Er sagte dabei: "Mit meinen Russen werde ich immer fertig, wenn
ich ihnen in's Gesicht sehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen
möchte ich mir sie doch nicht kommen lassen." Die Unteroffiziere
wurden in discreter Weise gestellt, verwendet und reich belohnt.
Es zeigt dies, wie trotz der religiösen Hingebung des russischen
Volks für seinen Zaren der Kaiser Nicolaus doch auch dem gemeinen
Manne unter seinen Unterthanen seine persönliche Sicherheit unter
vier Augen nicht unbeschränkt anvertraute; und es ist ein Zeichen
großer Charakterstärke, daß er von diesen Empfindungen sich bis
an sein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals
auf dem Throne eine Persönlichkeit gehabt, die ihm ebenso sympathisch
gewesen wäre wie der junge Kaiser Franz Joseph, so hätte er viel¬
leicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutschland
für Preußen ebenso Partei genommen, wie er es für Oestreich
gethan hat. Vorbedingung dazu wäre gewesen, daß Friedrich
Wilhelm IV. den Sieg seiner Truppen im März 1848 festgehalten

Zehntes Kapitel: Petersburg.
folger. Noch geringer war ſeine Meinung von der Veranlagung
unſres Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge¬
biete praktiſcher Politik; er hielt ihn zur Leitung der monarchiſchen
Trias für ſo wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger.
Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß
er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer des monarchiſchen
Widerſtandes gegen die von Weſten vordringende Revolution zu ſein.
Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Iſolirung der ruſ¬
ſiſchen Autokratie, und es iſt wunderbar genug, daß er ſich unter
allen Eindrücken, von den Decabriſten an durch alle folgenden Er¬
lebniſſe hindurch, dieſen idealen Schwung erhalten hatte.

Wie er über ſeine Stellung zu ſeinen Unterthanen empfand,
ergibt ſich aus einer Thatſache, die mir Friedrich Wilhelm IV. ſelbſt
erzählt hat. Der Kaiſer Nicolaus bat ihn um Zuſendung von zwei
Unteroffizieren der preußiſchen Garde, behufs Ausführung gewiſſer
ärztlich vorgeſchriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten
vorgenommen werden mußten, während dieſer auf dem Bauche lag.
Er ſagte dabei: „Mit meinen Ruſſen werde ich immer fertig, wenn
ich ihnen in's Geſicht ſehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen
möchte ich mir ſie doch nicht kommen laſſen.“ Die Unteroffiziere
wurden in discreter Weiſe geſtellt, verwendet und reich belohnt.
Es zeigt dies, wie trotz der religiöſen Hingebung des ruſſiſchen
Volks für ſeinen Zaren der Kaiſer Nicolaus doch auch dem gemeinen
Manne unter ſeinen Unterthanen ſeine perſönliche Sicherheit unter
vier Augen nicht unbeſchränkt anvertraute; und es iſt ein Zeichen
großer Charakterſtärke, daß er von dieſen Empfindungen ſich bis
an ſein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals
auf dem Throne eine Perſönlichkeit gehabt, die ihm ebenſo ſympathiſch
geweſen wäre wie der junge Kaiſer Franz Joſeph, ſo hätte er viel¬
leicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutſchland
für Preußen ebenſo Partei genommen, wie er es für Oeſtreich
gethan hat. Vorbedingung dazu wäre geweſen, daß Friedrich
Wilhelm IV. den Sieg ſeiner Truppen im März 1848 feſtgehalten

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[218/0245] Zehntes Kapitel: Petersburg. folger. Noch geringer war ſeine Meinung von der Veranlagung unſres Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge¬ biete praktiſcher Politik; er hielt ihn zur Leitung der monarchiſchen Trias für ſo wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger. Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer des monarchiſchen Widerſtandes gegen die von Weſten vordringende Revolution zu ſein. Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Iſolirung der ruſ¬ ſiſchen Autokratie, und es iſt wunderbar genug, daß er ſich unter allen Eindrücken, von den Decabriſten an durch alle folgenden Er¬ lebniſſe hindurch, dieſen idealen Schwung erhalten hatte. Wie er über ſeine Stellung zu ſeinen Unterthanen empfand, ergibt ſich aus einer Thatſache, die mir Friedrich Wilhelm IV. ſelbſt erzählt hat. Der Kaiſer Nicolaus bat ihn um Zuſendung von zwei Unteroffizieren der preußiſchen Garde, behufs Ausführung gewiſſer ärztlich vorgeſchriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten vorgenommen werden mußten, während dieſer auf dem Bauche lag. Er ſagte dabei: „Mit meinen Ruſſen werde ich immer fertig, wenn ich ihnen in's Geſicht ſehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen möchte ich mir ſie doch nicht kommen laſſen.“ Die Unteroffiziere wurden in discreter Weiſe geſtellt, verwendet und reich belohnt. Es zeigt dies, wie trotz der religiöſen Hingebung des ruſſiſchen Volks für ſeinen Zaren der Kaiſer Nicolaus doch auch dem gemeinen Manne unter ſeinen Unterthanen ſeine perſönliche Sicherheit unter vier Augen nicht unbeſchränkt anvertraute; und es iſt ein Zeichen großer Charakterſtärke, daß er von dieſen Empfindungen ſich bis an ſein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals auf dem Throne eine Perſönlichkeit gehabt, die ihm ebenſo ſympathiſch geweſen wäre wie der junge Kaiſer Franz Joſeph, ſo hätte er viel¬ leicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutſchland für Preußen ebenſo Partei genommen, wie er es für Oeſtreich gethan hat. Vorbedingung dazu wäre geweſen, daß Friedrich Wilhelm IV. den Sieg ſeiner Truppen im März 1848 feſtgehalten

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/245>, abgerufen am 24.11.2024.