Wie viele Existenzen giebt es noch in der heutigen politischen Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie Spanien, Portugal, Brasilien, alle amerikanischen Republiken, Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, das noch heut mit Bewußtsein in der glorious revolution von 1688 fußende England; selbst für das Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten theils Kaiser und Reich, theils ihren Mitständen, den Standesherrn, theils ihren eignen Landständen abgewonnen haben, läßt sich kein vollständig legitimer Besitztitel nachweisen, und in unserm eignen staatlichen Leben können wir der Benutzung revo¬ lutionärer Unterlagen nicht entgehn. Viele der berührten Zustände sind eingealtert, und wir haben uns an sie gewöhnt; es geht uns damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden lang umgeben, deßhalb aufhören, uns wunderbar zu erscheinen, und niemand abhalten, den Begriff des ,Wunders' auf Erscheinungen einzuschränken, welche durchaus nicht wunderbarer sind als die eigne Geburt und das tägliche Leben des Menschen.
Wenn ich aber ein Prinzip als oberstes und allgemein durch¬ greifendes anerkenne, so kann ich das nur insoweit, als es sich unter allen Umständen und zu allen Zeiten bewahrheitet, und der Grundsatz quod ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber selbst dann, wenn die revolutionären Erscheinungen der Vergangenheit noch nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen sagen konnte, wie die Hexe im Faust von ihrem Höllentrank: "Hier hab' ich eine Flasche, aus der ich selbst zuweilen nasche, die auch nicht mehr im mind'sten stinkt', hatte man nicht immer die Keusch¬ heit, sich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde von sehr antirevolutionären Potentaten ,Herr Bruder' genannt und seine Freundschaft gesucht, wenn sie nützlich erschien; mit den Generalstaaten waren sehr ehrbare Fürsten im Bündniß, bevor sie von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und seine Nachfolger in England galten, auch während die Stuarts noch
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Wie viele Exiſtenzen giebt es noch in der heutigen politiſchen Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie Spanien, Portugal, Braſilien, alle amerikaniſchen Republiken, Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, das noch heut mit Bewußtſein in der glorious revolution von 1688 fußende England; ſelbſt für das Terrain, welches die heutigen deutſchen Fürſten theils Kaiſer und Reich, theils ihren Mitſtänden, den Standesherrn, theils ihren eignen Landſtänden abgewonnen haben, läßt ſich kein vollſtändig legitimer Beſitztitel nachweiſen, und in unſerm eignen ſtaatlichen Leben können wir der Benutzung revo¬ lutionärer Unterlagen nicht entgehn. Viele der berührten Zuſtände ſind eingealtert, und wir haben uns an ſie gewöhnt; es geht uns damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden lang umgeben, deßhalb aufhören, uns wunderbar zu erſcheinen, und niemand abhalten, den Begriff des ‚Wunders‘ auf Erſcheinungen einzuſchränken, welche durchaus nicht wunderbarer ſind als die eigne Geburt und das tägliche Leben des Menſchen.
Wenn ich aber ein Prinzip als oberſtes und allgemein durch¬ greifendes anerkenne, ſo kann ich das nur inſoweit, als es ſich unter allen Umſtänden und zu allen Zeiten bewahrheitet, und der Grundſatz quod ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber ſelbſt dann, wenn die revolutionären Erſcheinungen der Vergangenheit noch nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen ſagen konnte, wie die Hexe im Fauſt von ihrem Höllentrank: „Hier hab' ich eine Flaſche, aus der ich ſelbſt zuweilen naſche, die auch nicht mehr im mind'ſten ſtinkt', hatte man nicht immer die Keuſch¬ heit, ſich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde von ſehr antirevolutionären Potentaten ‚Herr Bruder‘ genannt und ſeine Freundſchaft geſucht, wenn ſie nützlich erſchien; mit den Generalſtaaten waren ſehr ehrbare Fürſten im Bündniß, bevor ſie von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und ſeine Nachfolger in England galten, auch während die Stuarts noch
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Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Wie viele Exiſtenzen giebt es noch in der heutigen politiſchen
Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie
Spanien, Portugal, Braſilien, alle amerikaniſchen Republiken,
Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, das noch
heut mit Bewußtſein in der glorious revolution von 1688 fußende
England; ſelbſt für das Terrain, welches die heutigen deutſchen
Fürſten theils Kaiſer und Reich, theils ihren Mitſtänden, den
Standesherrn, theils ihren eignen Landſtänden abgewonnen haben,
läßt ſich kein vollſtändig legitimer Beſitztitel nachweiſen, und in
unſerm eignen ſtaatlichen Leben können wir der Benutzung revo¬
lutionärer Unterlagen nicht entgehn. Viele der berührten Zuſtände
ſind eingealtert, und wir haben uns an ſie gewöhnt; es geht uns
damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden
lang umgeben, deßhalb aufhören, uns wunderbar zu erſcheinen, und
niemand abhalten, den Begriff des ‚Wunders‘ auf Erſcheinungen
einzuſchränken, welche durchaus nicht wunderbarer ſind als die eigne
Geburt und das tägliche Leben des Menſchen.
Wenn ich aber ein Prinzip als oberſtes und allgemein durch¬
greifendes anerkenne, ſo kann ich das nur inſoweit, als es ſich
unter allen Umſtänden und zu allen Zeiten bewahrheitet, und der
Grundſatz quod ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere
nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber ſelbſt dann,
wenn die revolutionären Erſcheinungen der Vergangenheit noch
nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen
ſagen konnte, wie die Hexe im Fauſt von ihrem Höllentrank: „Hier
hab' ich eine Flaſche, aus der ich ſelbſt zuweilen naſche, die auch
nicht mehr im mind'ſten ſtinkt', hatte man nicht immer die Keuſch¬
heit, ſich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde
von ſehr antirevolutionären Potentaten ‚Herr Bruder‘ genannt
und ſeine Freundſchaft geſucht, wenn ſie nützlich erſchien; mit den
Generalſtaaten waren ſehr ehrbare Fürſten im Bündniß, bevor ſie
von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und ſeine
Nachfolger in England galten, auch während die Stuarts noch
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/203>, abgerufen am 25.11.2024.
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