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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Briefwechsel mit Gerlach über Frankreich.
vieles zu Gute und lassen uns viel gefallen dafür, selbst im Beutel.
Aber wenn wir uns für's Innre sagen müssen, daß wir mehr
durch unsre guten Säfte die Krankheiten ausstoßen, welche unsre
ministeriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt
und zu gesunder Diät angeleitet würden, so sucht man im Aus¬
wärtigen vergebens nach einem Trost dafür. Sie sind doch, ver¬
ehrtester Freund, au fait von unsrer Politik; können Sie mir nun
ein Ziel nennen, welches dieselbe sich etwa vorgesteckt hat, auch
nur einen Plan auf einige Monate hinaus; grade rebus sic stan¬
tibus
weiß man da, was man eigentlich will? weiß das irgend
Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines
andern Staates dieselbe Leere an positiven Zwecken und Ideen vor¬
handen ist? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen,
auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum Kriege
käme, oder der für uns spräche bei einem Anliegen, wie etwa das
Neuenburger, oder der für uns irgend etwas thäte, weil er auf
unsern Beistand rechnet oder unsre Feindschaft fürchtet? Wir sind
die gutmüthigsten, ungefährlichsten Politiker, und doch traut uns
eigentlich niemand; wir gelten wie unsichre Genossen und unge¬
fährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern so betragen
und wären im Innern so krank wie Oestreich. Ich spreche nicht
von der Gegenwart; aber können Sie mir einen positiven Plan
(abwehrende genug) oder eine Absicht nennen, die wir seit dem
Radowitzischen Dreikönigsbündniß in auswärtiger Politik gehabt
haben? Doch, den Jahdebusen; der bleibt aber bisher ein todtes
Wasserloch, und den Zollverein werden wir uns von Oestreich ganz
freundlich ausziehn lassen, weil wir nicht den Entschluß haben, ein¬
fach Nein zu sagen. Ich wundre mich, wenn es bei uns noch
Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen
die sachliche Ambition, etwas leisten zu wollen, nicht schon erstorben
ist, und ich werde mich ebenso gut wie meine Collegen darin finden,
einfältig meine Instruction zu vollziehn, den Sitzungen beizuwohnen
und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang unsrer Politik

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
vieles zu Gute und laſſen uns viel gefallen dafür, ſelbſt im Beutel.
Aber wenn wir uns für's Innre ſagen müſſen, daß wir mehr
durch unſre guten Säfte die Krankheiten ausſtoßen, welche unſre
miniſteriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt
und zu geſunder Diät angeleitet würden, ſo ſucht man im Aus¬
wärtigen vergebens nach einem Troſt dafür. Sie ſind doch, ver¬
ehrteſter Freund, au fait von unſrer Politik; können Sie mir nun
ein Ziel nennen, welches dieſelbe ſich etwa vorgeſteckt hat, auch
nur einen Plan auf einige Monate hinaus; grade rebus sic stan¬
tibus
weiß man da, was man eigentlich will? weiß das irgend
Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines
andern Staates dieſelbe Leere an poſitiven Zwecken und Ideen vor¬
handen iſt? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen,
auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum Kriege
käme, oder der für uns ſpräche bei einem Anliegen, wie etwa das
Neuenburger, oder der für uns irgend etwas thäte, weil er auf
unſern Beiſtand rechnet oder unſre Feindſchaft fürchtet? Wir ſind
die gutmüthigſten, ungefährlichſten Politiker, und doch traut uns
eigentlich niemand; wir gelten wie unſichre Genoſſen und unge¬
fährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern ſo betragen
und wären im Innern ſo krank wie Oeſtreich. Ich ſpreche nicht
von der Gegenwart; aber können Sie mir einen poſitiven Plan
(abwehrende genug) oder eine Abſicht nennen, die wir ſeit dem
Radowitziſchen Dreikönigsbündniß in auswärtiger Politik gehabt
haben? Doch, den Jahdebuſen; der bleibt aber bisher ein todtes
Waſſerloch, und den Zollverein werden wir uns von Oeſtreich ganz
freundlich ausziehn laſſen, weil wir nicht den Entſchluß haben, ein¬
fach Nein zu ſagen. Ich wundre mich, wenn es bei uns noch
Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen
die ſachliche Ambition, etwas leiſten zu wollen, nicht ſchon erſtorben
iſt, und ich werde mich ebenſo gut wie meine Collegen darin finden,
einfältig meine Inſtruction zu vollziehn, den Sitzungen beizuwohnen
und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang unſrer Politik

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[163/0190] Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich. vieles zu Gute und laſſen uns viel gefallen dafür, ſelbſt im Beutel. Aber wenn wir uns für's Innre ſagen müſſen, daß wir mehr durch unſre guten Säfte die Krankheiten ausſtoßen, welche unſre miniſteriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt und zu geſunder Diät angeleitet würden, ſo ſucht man im Aus¬ wärtigen vergebens nach einem Troſt dafür. Sie ſind doch, ver¬ ehrteſter Freund, au fait von unſrer Politik; können Sie mir nun ein Ziel nennen, welches dieſelbe ſich etwa vorgeſteckt hat, auch nur einen Plan auf einige Monate hinaus; grade rebus sic stan¬ tibus weiß man da, was man eigentlich will? weiß das irgend Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines andern Staates dieſelbe Leere an poſitiven Zwecken und Ideen vor¬ handen iſt? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen, auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum Kriege käme, oder der für uns ſpräche bei einem Anliegen, wie etwa das Neuenburger, oder der für uns irgend etwas thäte, weil er auf unſern Beiſtand rechnet oder unſre Feindſchaft fürchtet? Wir ſind die gutmüthigſten, ungefährlichſten Politiker, und doch traut uns eigentlich niemand; wir gelten wie unſichre Genoſſen und unge¬ fährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern ſo betragen und wären im Innern ſo krank wie Oeſtreich. Ich ſpreche nicht von der Gegenwart; aber können Sie mir einen poſitiven Plan (abwehrende genug) oder eine Abſicht nennen, die wir ſeit dem Radowitziſchen Dreikönigsbündniß in auswärtiger Politik gehabt haben? Doch, den Jahdebuſen; der bleibt aber bisher ein todtes Waſſerloch, und den Zollverein werden wir uns von Oeſtreich ganz freundlich ausziehn laſſen, weil wir nicht den Entſchluß haben, ein¬ fach Nein zu ſagen. Ich wundre mich, wenn es bei uns noch Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen die ſachliche Ambition, etwas leiſten zu wollen, nicht ſchon erſtorben iſt, und ich werde mich ebenſo gut wie meine Collegen darin finden, einfältig meine Inſtruction zu vollziehn, den Sitzungen beizuwohnen und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang unſrer Politik

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/190>, abgerufen am 23.11.2024.