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Binder, Sidonie: Zum Wiesbadener Ärztetag. In: Die Frau 12 (1898). S. 705–712.

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Zum Wiesbadener Ärztetag.
zum Überdruß gehörten. Die Mär vom geringern Hirngewicht und der darauf
beruhenden angeblichen geistigen Minderwertigkeit des Weibes hat er allerdings nur
schüchtern gestreift, die noch zweifelhafteren Argumente vom weniger gefurchten weib-
lichen Scheitellappen und dem physiologischen Wertunterschied des männlichen und
weiblichen Blutes gar nicht erwähnt. Es scheint, daß in der That diese abgedroschenen
Beweismittel endgiltig abgethan sind.

Trotzdem läßt der Herr Referent sich von ungenannter für ihn jedoch "kom-
petenter Seite" attestieren, daß die "Durchschnittsfrau" zum medizinischen Studium
und Beruf nicht befähigt sei. Du lieber Gott, der Durchschnittsmann wahrscheinlich
auch nicht! Verschwänden doch nur mit einem Schlage alle die mechanischen Durch-
schnittsköpfe aus der Medizin! Durchschnittsfrauen werden sich vorderhand zu einem
komplizierten Fachstudium überhaupt nicht drängen, und für die dreihundert Ärztinnen,
die Prof. Penzoldt in den nächsten dreißig Jahren für Deutschland prophezeiht, werden
wir Ausnahme-Jngenien zur Verfügung stellen können. Und später, wenn die Auf-
merksamkeit auf weibliche Begabung noch mehr geweckt sein wird, deren regelrechte
Ausbildung einmal für selbstverständlich gilt, werden auch steigende Bedürfnisse sich
noch decken lassen.

Jm allgemeinen, meint der Referent, bestehe ein Mangel an ärztlicher Hilfe in
Deutschland gegenwärtig überhaupt nicht. Der ärztliche Stand sei vielmehr überfüllt,
und die Ärzte kämpften einen schweren Konkurrenzkampf unter sich und mit dem
Kurpfuschertum.

Dem gegenüber ist zu bemerken: die Zahl von 24000 Civilärzten mag für die
Civilbevölkerung Deutschlands allerdings ausreichend sein. Aber Militärärzte sind
nicht genügend vorhanden. Die zur Verfügung stehenden bleiben, wie jeder weiß,
der den Verhandlungen des letzten Reichstags darüber gefolgt ist, der Ziffer nach,
sogar hinter dem Etats-Soll der Friedens-Präsenzstärke um fast unglaublich klingende
Prozentsätze zurück. Sollte das Gespenst eines europäischen Krieges, mit dem uns
seit Jahrzehnten fast jede einzelne Zeitungsnummer schreckt, einmal doch zur Wahrheit
werden, so würde der empfindlichste Mangel an Ärzten auf allen Flanken die nächste
Folge sein, und weibliche Stellvertretung für die Ausmarschierenden vermutlich sehr
erwünscht. Auch unser wachsendes Seewesen, unsre sich vermehrenden und erweiternden
Kolonien werden immer zahlreichere ärztliche Kräfte an sich ziehen und verbrauchen,
so daß es im kommenden Jahrhundert, auch unter normalen Verhältnissen und inner-
halb der bisherigen Zahl der Ärzte, an Lücken für weibliche Kollegen in der deutschen
Heimat wohl kaum fehlen dürfte.

Jm übrigen handelt es sich um all das bei den Forderungen der "sogenannten"
Frauenbewegung, wie Prof. Penzoldt sie bezeichnet, nur sekundär. Zahl oder Überzahl
der deutschen Ärzte, ihre größeren oder geringeren Existenzschwierigkeiten berühren den
Kern der Sache nicht. Denn wir wollen weder weniger noch mehr, wir wollen auch
nicht hervorragend glänzend situierte, wir wollen weibliche Ärzte.

Die geringere körperliche Stärke der Frau macht dem Wiesbadener Referat
natürlich auch wieder Sorge. Sie werde ihr akut hinderlich sein, meint der Referent,
bei Durchführung schwerer chirurgischer oder gynäkologischer Eingriffe.

Aber zum Holzfällen, ganze Sommer hindurch, wie ein Holzknecht, zum Loh
kuchentreten, tagelang, zum Holzsägen und -spalten, zum Mörtel- und Backsteintragen
bei Häuser- und Kirchenbauten, da reicht die Kraft? Weiß der Referent nicht, was

Zum Wiesbadener Ärztetag.
zum Überdruß gehörten. Die Mär vom geringern Hirngewicht und der darauf
beruhenden angeblichen geistigen Minderwertigkeit des Weibes hat er allerdings nur
schüchtern gestreift, die noch zweifelhafteren Argumente vom weniger gefurchten weib-
lichen Scheitellappen und dem physiologischen Wertunterschied des männlichen und
weiblichen Blutes gar nicht erwähnt. Es scheint, daß in der That diese abgedroschenen
Beweismittel endgiltig abgethan sind.

Trotzdem läßt der Herr Referent sich von ungenannter für ihn jedoch „kom-
petenter Seite“ attestieren, daß die „Durchschnittsfrau“ zum medizinischen Studium
und Beruf nicht befähigt sei. Du lieber Gott, der Durchschnittsmann wahrscheinlich
auch nicht! Verschwänden doch nur mit einem Schlage alle die mechanischen Durch-
schnittsköpfe aus der Medizin! Durchschnittsfrauen werden sich vorderhand zu einem
komplizierten Fachstudium überhaupt nicht drängen, und für die dreihundert Ärztinnen,
die Prof. Penzoldt in den nächsten dreißig Jahren für Deutschland prophezeiht, werden
wir Ausnahme-Jngenien zur Verfügung stellen können. Und später, wenn die Auf-
merksamkeit auf weibliche Begabung noch mehr geweckt sein wird, deren regelrechte
Ausbildung einmal für selbstverständlich gilt, werden auch steigende Bedürfnisse sich
noch decken lassen.

Jm allgemeinen, meint der Referent, bestehe ein Mangel an ärztlicher Hilfe in
Deutschland gegenwärtig überhaupt nicht. Der ärztliche Stand sei vielmehr überfüllt,
und die Ärzte kämpften einen schweren Konkurrenzkampf unter sich und mit dem
Kurpfuschertum.

Dem gegenüber ist zu bemerken: die Zahl von 24000 Civilärzten mag für die
Civilbevölkerung Deutschlands allerdings ausreichend sein. Aber Militärärzte sind
nicht genügend vorhanden. Die zur Verfügung stehenden bleiben, wie jeder weiß,
der den Verhandlungen des letzten Reichstags darüber gefolgt ist, der Ziffer nach,
sogar hinter dem Etats-Soll der Friedens-Präsenzstärke um fast unglaublich klingende
Prozentsätze zurück. Sollte das Gespenst eines europäischen Krieges, mit dem uns
seit Jahrzehnten fast jede einzelne Zeitungsnummer schreckt, einmal doch zur Wahrheit
werden, so würde der empfindlichste Mangel an Ärzten auf allen Flanken die nächste
Folge sein, und weibliche Stellvertretung für die Ausmarschierenden vermutlich sehr
erwünscht. Auch unser wachsendes Seewesen, unsre sich vermehrenden und erweiternden
Kolonien werden immer zahlreichere ärztliche Kräfte an sich ziehen und verbrauchen,
so daß es im kommenden Jahrhundert, auch unter normalen Verhältnissen und inner-
halb der bisherigen Zahl der Ärzte, an Lücken für weibliche Kollegen in der deutschen
Heimat wohl kaum fehlen dürfte.

Jm übrigen handelt es sich um all das bei den Forderungen der „sogenannten“
Frauenbewegung, wie Prof. Penzoldt sie bezeichnet, nur sekundär. Zahl oder Überzahl
der deutschen Ärzte, ihre größeren oder geringeren Existenzschwierigkeiten berühren den
Kern der Sache nicht. Denn wir wollen weder weniger noch mehr, wir wollen auch
nicht hervorragend glänzend situierte, wir wollen weibliche Ärzte.

Die geringere körperliche Stärke der Frau macht dem Wiesbadener Referat
natürlich auch wieder Sorge. Sie werde ihr akut hinderlich sein, meint der Referent,
bei Durchführung schwerer chirurgischer oder gynäkologischer Eingriffe.

Aber zum Holzfällen, ganze Sommer hindurch, wie ein Holzknecht, zum Loh
kuchentreten, tagelang, zum Holzsägen und -spalten, zum Mörtel- und Backsteintragen
bei Häuser- und Kirchenbauten, da reicht die Kraft? Weiß der Referent nicht, was

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[708/0004] Zum Wiesbadener Ärztetag. zum Überdruß gehörten. Die Mär vom geringern Hirngewicht und der darauf beruhenden angeblichen geistigen Minderwertigkeit des Weibes hat er allerdings nur schüchtern gestreift, die noch zweifelhafteren Argumente vom weniger gefurchten weib- lichen Scheitellappen und dem physiologischen Wertunterschied des männlichen und weiblichen Blutes gar nicht erwähnt. Es scheint, daß in der That diese abgedroschenen Beweismittel endgiltig abgethan sind. Trotzdem läßt der Herr Referent sich von ungenannter für ihn jedoch „kom- petenter Seite“ attestieren, daß die „Durchschnittsfrau“ zum medizinischen Studium und Beruf nicht befähigt sei. Du lieber Gott, der Durchschnittsmann wahrscheinlich auch nicht! Verschwänden doch nur mit einem Schlage alle die mechanischen Durch- schnittsköpfe aus der Medizin! Durchschnittsfrauen werden sich vorderhand zu einem komplizierten Fachstudium überhaupt nicht drängen, und für die dreihundert Ärztinnen, die Prof. Penzoldt in den nächsten dreißig Jahren für Deutschland prophezeiht, werden wir Ausnahme-Jngenien zur Verfügung stellen können. Und später, wenn die Auf- merksamkeit auf weibliche Begabung noch mehr geweckt sein wird, deren regelrechte Ausbildung einmal für selbstverständlich gilt, werden auch steigende Bedürfnisse sich noch decken lassen. Jm allgemeinen, meint der Referent, bestehe ein Mangel an ärztlicher Hilfe in Deutschland gegenwärtig überhaupt nicht. Der ärztliche Stand sei vielmehr überfüllt, und die Ärzte kämpften einen schweren Konkurrenzkampf unter sich und mit dem Kurpfuschertum. Dem gegenüber ist zu bemerken: die Zahl von 24000 Civilärzten mag für die Civilbevölkerung Deutschlands allerdings ausreichend sein. Aber Militärärzte sind nicht genügend vorhanden. Die zur Verfügung stehenden bleiben, wie jeder weiß, der den Verhandlungen des letzten Reichstags darüber gefolgt ist, der Ziffer nach, sogar hinter dem Etats-Soll der Friedens-Präsenzstärke um fast unglaublich klingende Prozentsätze zurück. Sollte das Gespenst eines europäischen Krieges, mit dem uns seit Jahrzehnten fast jede einzelne Zeitungsnummer schreckt, einmal doch zur Wahrheit werden, so würde der empfindlichste Mangel an Ärzten auf allen Flanken die nächste Folge sein, und weibliche Stellvertretung für die Ausmarschierenden vermutlich sehr erwünscht. Auch unser wachsendes Seewesen, unsre sich vermehrenden und erweiternden Kolonien werden immer zahlreichere ärztliche Kräfte an sich ziehen und verbrauchen, so daß es im kommenden Jahrhundert, auch unter normalen Verhältnissen und inner- halb der bisherigen Zahl der Ärzte, an Lücken für weibliche Kollegen in der deutschen Heimat wohl kaum fehlen dürfte. Jm übrigen handelt es sich um all das bei den Forderungen der „sogenannten“ Frauenbewegung, wie Prof. Penzoldt sie bezeichnet, nur sekundär. Zahl oder Überzahl der deutschen Ärzte, ihre größeren oder geringeren Existenzschwierigkeiten berühren den Kern der Sache nicht. Denn wir wollen weder weniger noch mehr, wir wollen auch nicht hervorragend glänzend situierte, wir wollen weibliche Ärzte. Die geringere körperliche Stärke der Frau macht dem Wiesbadener Referat natürlich auch wieder Sorge. Sie werde ihr akut hinderlich sein, meint der Referent, bei Durchführung schwerer chirurgischer oder gynäkologischer Eingriffe. Aber zum Holzfällen, ganze Sommer hindurch, wie ein Holzknecht, zum Loh kuchentreten, tagelang, zum Holzsägen und -spalten, zum Mörtel- und Backsteintragen bei Häuser- und Kirchenbauten, da reicht die Kraft? Weiß der Referent nicht, was

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Zitationshilfe: Binder, Sidonie: Zum Wiesbadener Ärztetag. In: Die Frau 12 (1898). S. 705–712, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/binder_aerztetag_1898/4>, abgerufen am 09.11.2024.