Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Buch, drittes Kapitel.
muß von Schmerz ergriffen werden bei diesem
Anblicke, und Sie wissen, wie sehr sich kunst¬
freundliche Kreise bemühen, durch Gründung bil¬
liger Theater etc. das Publikum, zumal der breiteren
Volksschichten, dem Variete zu entziehen. Ein
lobenswerter Plan, aber eine falsche Methode, ein
verhängnisvoller Irrtum, entsprungen einem Mangel
an Zeitpsychologie und an Verständnis für ent¬
wickelungsgeschichtliche Resultate! Die Zeit des
Theaters ist im Ganzen vorbei! In diesen alten
Schlauch füllt nur der Unverstand neuen Wein!
Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix
der Kirche, sich von dieser losmachte und sich selber
eine neue, damals zeitgemäße Form gab, so muß
sich die Kunst heute vom Theater emanzipieren
und entschlossen die Form annehmen, für die sich
der Zeitgeschmack entschieden hat: Die Form des
Varietes! Beides ist reif zum Untergange: Das
Theater, weil seine ganze Struktur zu klotzig, schwer
und unbeweglich ist für die Genäschigkeit des mo¬
dernen Kunsttriebs, und das jetzige Variete, weil
es seine überaus günstige, allen Wünschen einer
nervösen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft
künstlerischem Inhalt zu erfüllen versteht. Lassen
Sie uns ein Variete gründen als ästhetische An¬

Viertes Buch, drittes Kapitel.
muß von Schmerz ergriffen werden bei dieſem
Anblicke, und Sie wiſſen, wie ſehr ſich kunſt¬
freundliche Kreiſe bemühen, durch Gründung bil¬
liger Theater ꝛc. das Publikum, zumal der breiteren
Volksſchichten, dem Variété zu entziehen. Ein
lobenswerter Plan, aber eine falſche Methode, ein
verhängnisvoller Irrtum, entſprungen einem Mangel
an Zeitpſychologie und an Verſtändnis für ent¬
wickelungsgeſchichtliche Reſultate! Die Zeit des
Theaters iſt im Ganzen vorbei! In dieſen alten
Schlauch füllt nur der Unverſtand neuen Wein!
Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix
der Kirche, ſich von dieſer losmachte und ſich ſelber
eine neue, damals zeitgemäße Form gab, ſo muß
ſich die Kunſt heute vom Theater emanzipieren
und entſchloſſen die Form annehmen, für die ſich
der Zeitgeſchmack entſchieden hat: Die Form des
Variétés! Beides iſt reif zum Untergange: Das
Theater, weil ſeine ganze Struktur zu klotzig, ſchwer
und unbeweglich iſt für die Genäſchigkeit des mo¬
dernen Kunſttriebs, und das jetzige Variété, weil
es ſeine überaus günſtige, allen Wünſchen einer
nervöſen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft
künſtleriſchem Inhalt zu erfüllen verſteht. Laſſen
Sie uns ein Variété gründen als äſthetiſche An¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0375" n="361"/><fw place="top" type="header">Viertes Buch, drittes Kapitel.<lb/></fw> muß von Schmerz ergriffen werden bei die&#x017F;em<lb/>
Anblicke, und Sie wi&#x017F;&#x017F;en, wie &#x017F;ehr &#x017F;ich kun&#x017F;<lb/>
freundliche Krei&#x017F;e bemühen, durch Gründung bil¬<lb/>
liger Theater &#xA75B;c. das Publikum, zumal der breiteren<lb/>
Volks&#x017F;chichten, dem Vari<hi rendition="#aq">é</hi>t<hi rendition="#aq">é</hi> zu entziehen. Ein<lb/>
lobenswerter Plan, aber eine fal&#x017F;che Methode, ein<lb/>
verhängnisvoller Irrtum, ent&#x017F;prungen einem Mangel<lb/>
an Zeitp&#x017F;ychologie und an Ver&#x017F;tändnis für ent¬<lb/>
wickelungsge&#x017F;chichtliche Re&#x017F;ultate! Die Zeit des<lb/>
Theaters i&#x017F;t im Ganzen vorbei! In die&#x017F;en alten<lb/>
Schlauch füllt nur der Unver&#x017F;tand neuen Wein!<lb/>
Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix<lb/>
der Kirche, &#x017F;ich von die&#x017F;er losmachte und &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/>
eine neue, damals zeitgemäße Form gab, &#x017F;o muß<lb/>
&#x017F;ich die Kun&#x017F;t heute vom Theater emanzipieren<lb/>
und ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en die Form annehmen, für die &#x017F;ich<lb/>
der Zeitge&#x017F;chmack ent&#x017F;chieden hat: Die Form des<lb/>
Vari<hi rendition="#aq">é</hi>t<hi rendition="#aq">é</hi>s! Beides i&#x017F;t reif zum Untergange: Das<lb/>
Theater, weil &#x017F;eine ganze Struktur zu klotzig, &#x017F;chwer<lb/>
und unbeweglich i&#x017F;t für die Genä&#x017F;chigkeit des mo¬<lb/>
dernen Kun&#x017F;ttriebs, und das jetzige Vari<hi rendition="#aq">é</hi>t<hi rendition="#aq">é</hi>, weil<lb/>
es &#x017F;eine überaus gün&#x017F;tige, allen Wün&#x017F;chen einer<lb/>
nervö&#x017F;en Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;chem Inhalt zu erfüllen ver&#x017F;teht. La&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Sie uns ein Vari<hi rendition="#aq">é</hi>t<hi rendition="#aq">é</hi> gründen als ä&#x017F;theti&#x017F;che An¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0375] Viertes Buch, drittes Kapitel. muß von Schmerz ergriffen werden bei dieſem Anblicke, und Sie wiſſen, wie ſehr ſich kunſt¬ freundliche Kreiſe bemühen, durch Gründung bil¬ liger Theater ꝛc. das Publikum, zumal der breiteren Volksſchichten, dem Variété zu entziehen. Ein lobenswerter Plan, aber eine falſche Methode, ein verhängnisvoller Irrtum, entſprungen einem Mangel an Zeitpſychologie und an Verſtändnis für ent¬ wickelungsgeſchichtliche Reſultate! Die Zeit des Theaters iſt im Ganzen vorbei! In dieſen alten Schlauch füllt nur der Unverſtand neuen Wein! Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix der Kirche, ſich von dieſer losmachte und ſich ſelber eine neue, damals zeitgemäße Form gab, ſo muß ſich die Kunſt heute vom Theater emanzipieren und entſchloſſen die Form annehmen, für die ſich der Zeitgeſchmack entſchieden hat: Die Form des Variétés! Beides iſt reif zum Untergange: Das Theater, weil ſeine ganze Struktur zu klotzig, ſchwer und unbeweglich iſt für die Genäſchigkeit des mo¬ dernen Kunſttriebs, und das jetzige Variété, weil es ſeine überaus günſtige, allen Wünſchen einer nervöſen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft künſtleriſchem Inhalt zu erfüllen verſteht. Laſſen Sie uns ein Variété gründen als äſthetiſche An¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/375
Zitationshilfe: Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/375>, abgerufen am 25.11.2024.