Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_005.001 Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) p3b_005.009 [Beginn Spaltensatz] Stoff. p3b_005.011 Einst hatten einer armen Frau p3b_005.104 [Ende Spaltensatz]
Zu Hildesheim, der alten Stadt, p3b_005.105 Die Werber ihren einz'gen Sohn p3b_005.106 Fort in den langen Krieg geschleppt. p3b_005.107 Die arme Witwe weinte viel; p3b_005.108 Sie flehte täglich, daß ihr Gott p3b_005.109 Den Sohn, den allereinz'gen Hort p3b_005.110 Am Leben mög' erhalten. - p3b_005.111 Und es verging ihr Jahr um Jahr, p3b_005.112 Und keine Nachricht kam vom Sohn! p3b_005.113 Die harten Nachbarn lachten kalt, p3b_005.114 Und rieten, wegen ihres Sohns p3b_005.115 Zufrieden sich zu geben doch, p3b_005.116 Denn ihm sei Gleiches nur geschehn, p3b_005.117 Wie manchem andern Mutterkind p3b_005.118 Geschehe wohl in jedem Krieg. p3b_005.119 Der Witwe Hoffnung wankte nicht; p3b_005.120 Sie glaubte nimmermehr daran, p3b_005.121 Daß Gott ihr diesen teuren Sohn p3b_005.122 Genommen, - ja, sie flehte neu p3b_005.123 Für ihn, der größten Hoffnung voll. p3b_005.124 Da war's ihr in der Kirch' einmal, p3b_005.125 Als ob in einen tiefen Schlaf p3b_005.126 Sie fiel', und doch geöffnet stand p3b_005.127 Das Aug' ihr, daß sie hell und klar p3b_005.128 Viel Wunderbares ward gewahr. p3b_005.129 Sie sah in eine weite Welt p3b_005.130 Und ward gewahr ein großes Heer p3b_005.131 Von fremder Völker bunter Schar. p3b_005.132 Ein König unter ihnen stand p3b_005.133 Mit goldner Kron' auf seinem Haupt; p3b_005.001 Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) p3b_005.009 [Beginn Spaltensatz] Stoff. p3b_005.011 Eĭnst hāttĕn ēinĕr ārmĕn Frāu p3b_005.104 [Ende Spaltensatz]
Zu Hildesheim, der alten Stadt, p3b_005.105 Die Werber ihren einz'gen Sohn p3b_005.106 Fort in den langen Krieg geschleppt. p3b_005.107 Die arme Witwe weinte viel; p3b_005.108 Sie flehte täglich, daß ihr Gott p3b_005.109 Den Sohn, den allereinz'gen Hort p3b_005.110 Am Leben mög' erhalten. ─ p3b_005.111 Und es verging ihr Jahr um Jahr, p3b_005.112 Und keine Nachricht kam vom Sohn! p3b_005.113 Die harten Nachbarn lachten kalt, p3b_005.114 Und rieten, wegen ihres Sohns p3b_005.115 Zufrieden sich zu geben doch, p3b_005.116 Denn ihm sei Gleiches nur geschehn, p3b_005.117 Wie manchem andern Mutterkind p3b_005.118 Geschehe wohl in jedem Krieg. p3b_005.119 Der Witwe Hoffnung wankte nicht; p3b_005.120 Sie glaubte nimmermehr daran, p3b_005.121 Daß Gott ihr diesen teuren Sohn p3b_005.122 Genommen, ─ ja, sie flehte neu p3b_005.123 Für ihn, der größten Hoffnung voll. p3b_005.124 Da war's ihr in der Kirch' einmal, p3b_005.125 Als ob in einen tiefen Schlaf p3b_005.126 Sie fiel', und doch geöffnet stand p3b_005.127 Das Aug' ihr, daß sie hell und klar p3b_005.128 Viel Wunderbares ward gewahr. p3b_005.129 Sie sah in eine weite Welt p3b_005.130 Und ward gewahr ein großes Heer p3b_005.131 Von fremder Völker bunter Schar. p3b_005.132 Ein König unter ihnen stand p3b_005.133 Mit goldner Kron' auf seinem Haupt; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0031" n="5"/> <p><lb n="p3b_005.001"/><hi rendition="#g">Aufgabe. Die nachfolgende Sage ist in jambischen Viertaktern <lb n="p3b_005.002"/> wiederzugeben, und zwar sind akatalektische Verse zu bilden.</hi><lb n="p3b_005.003"/> (Vgl. übrigens S. 2 Ziffer 7.) Das Material für den einzelnen Vers ist <lb n="p3b_005.004"/> durch Taktstriche abgegrenzt. Es ist bei Lösung dieser Aufgabe die Beibehaltung <lb n="p3b_005.005"/> der prosaischen Wendungen des Stoffs gestattet, damit um so größere Sorgfalt <lb n="p3b_005.006"/> der Bildung reiner Accentjamben und der Vermeidung des Hiatus, wie der <lb n="p3b_005.007"/> Beachtung der obigen Vorschriften zugewendet werden kann.</p> <lb n="p3b_005.008"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Die Witwe.</hi> (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) <lb n="p3b_005.009"/> (<hi rendition="#g">Von Karl Seifart. 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Aufgabe. Die nachfolgende Sage ist in jambischen Viertaktern p3b_005.002
wiederzugeben, und zwar sind akatalektische Verse zu bilden. p3b_005.003
(Vgl. übrigens S. 2 Ziffer 7.) Das Material für den einzelnen Vers ist p3b_005.004
durch Taktstriche abgegrenzt. Es ist bei Lösung dieser Aufgabe die Beibehaltung p3b_005.005
der prosaischen Wendungen des Stoffs gestattet, damit um so größere Sorgfalt p3b_005.006
der Bildung reiner Accentjamben und der Vermeidung des Hiatus, wie der p3b_005.007
Beachtung der obigen Vorschriften zugewendet werden kann.
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Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) p3b_005.009
(Von Karl Seifart. Sagen &c. Göttingen 1854.)
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Stoff.
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Einer armen Witwe │ bei Hildesheim p3b_005.012
hatten │ die Werber ihren einzigen p3b_005.013
Sohn │ genommen und in den p3b_005.014
siebenjährigen Krieg geschleppt. │ Die p3b_005.015
arme Frau konnte weiter nichts thun, │ p3b_005.016
als weinen und beten, daß ihr der p3b_005.017
liebe Gott │ doch ihre einzige Stütze │ p3b_005.018
am Leben erhalten möge. │ Das that p3b_005.019
sie denn auch jeden Morgen. │ Aber p3b_005.020
Jahre vergingen, │ und keine Nachricht p3b_005.021
kam von ihrem Sohne. │ Die p3b_005.022
harten Nachbarn lachten │ und meinten, p3b_005.023
sie solle sich doch nur über ihren Sohn │ p3b_005.024
zufrieden geben. │ Dem wäre nur geschehen, p3b_005.025
│ was so manchem Mutterkinde p3b_005.026
│ im Kriege geschehe. │ Aber die p3b_005.027
Frau ließ sich nicht irre machen; │ sie p3b_005.028
konnte nicht daran glauben, │ daß Gott p3b_005.029
ihr ihre einzige Stütze │ nehmen würde, p3b_005.030
und sie betete │ nach wie vor für das p3b_005.031
Wohlergehen ihres Sohnes. │ Da war p3b_005.032
es ihr einmal in der Kirche, │ als ob p3b_005.033
sie in einen tiefen Schlaf │ fiele, und p3b_005.034
doch standen │ ihre Augen weit offen, p3b_005.035
so daß sie │ Wunderbares schaute. │ p3b_005.036
Sie sah in eine weite, weite Welt, │ p3b_005.037
darin lagerten viele Tausende │ fremder p3b_005.038
Völker, │ und unter den Völkern p3b_005.039
stand ein König │ mit goldener Krone, │
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Lösung (mit Beibehaltung der Prosawendungen p3b_005.102
des Stoffs). p3b_005.103
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Zu Hildesheim, der alten Stadt, p3b_005.105
Die Werber ihren einz'gen Sohn p3b_005.106
Fort in den langen Krieg geschleppt. p3b_005.107
Die arme Witwe weinte viel; p3b_005.108
Sie flehte täglich, daß ihr Gott p3b_005.109
Den Sohn, den allereinz'gen Hort p3b_005.110
Am Leben mög' erhalten. ─ p3b_005.111
Und es verging ihr Jahr um Jahr, p3b_005.112
Und keine Nachricht kam vom Sohn! p3b_005.113
Die harten Nachbarn lachten kalt, p3b_005.114
Und rieten, wegen ihres Sohns p3b_005.115
Zufrieden sich zu geben doch, p3b_005.116
Denn ihm sei Gleiches nur geschehn, p3b_005.117
Wie manchem andern Mutterkind p3b_005.118
Geschehe wohl in jedem Krieg. p3b_005.119
Der Witwe Hoffnung wankte nicht; p3b_005.120
Sie glaubte nimmermehr daran, p3b_005.121
Daß Gott ihr diesen teuren Sohn p3b_005.122
Genommen, ─ ja, sie flehte neu p3b_005.123
Für ihn, der größten Hoffnung voll. p3b_005.124
Da war's ihr in der Kirch' einmal, p3b_005.125
Als ob in einen tiefen Schlaf p3b_005.126
Sie fiel', und doch geöffnet stand p3b_005.127
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Viel Wunderbares ward gewahr. p3b_005.129
Sie sah in eine weite Welt p3b_005.130
Und ward gewahr ein großes Heer p3b_005.131
Von fremder Völker bunter Schar. p3b_005.132
Ein König unter ihnen stand p3b_005.133
Mit goldner Kron' auf seinem Haupt;
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Zitationshilfe: | Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/31>, abgerufen am 16.07.2024. |