Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_238.001 p3b_238.018 Übersetzung von Voß. p3b_238.022Unaussprechlichen Gram, o Königin, soll ich erneuern; p3b_238.023 Wie die trojanische Macht und die mitleidswürdige Herrschaft p3b_238.024 Danaer warfen in Staub; was ich selbst anschaute des Elends, p3b_238.025 Wessen ich selbst nicht wenig ertrug! Wer, solches erzählend, p3b_238.026 Myrmidon' und Doloper sei's, und des harten Ulysses p3b_238.027 Kriegsfreund, hemmte die Thrän'? Auch eilt die tauige Nacht schon p3b_238.028 Himmelab, und es laden die sinkenden Sterne zu Schlummer. p3b_238.029 Aber verlangt dich so sehr, zu erkundigen unsere Leiden, p3b_238.030 Und ihn kurz zu vernehmen, den endenden Jammer von Troja; p3b_238.031 Wie auch der Geist vor des Grames Erinnerung schaudernd zurückfährt, p3b_238.032 Will ich gehorchen dem Wunsch. Kriegssatt und gehemmet vom Schicksal, p3b_238.033 Harrten die Danaerfürsten so viel hingleitende Jahre; p3b_238.034 Ein bergähnliches Roß, durch göttliche Kunst der Minerva, p3b_238.035 Bauen sie jetzt, und spünden mit tannener Bohle die Rippen; p3b_238.036 Als ein Weihegeschenk für die Heimkehr; solch ein Gerücht fliegt. p3b_238.037 Hierin bergen sie heimlich vom Los erkorene Männer, p3b_238.038 Eingesperrt in der Seite Verschloß; und die Höhlungen ringsum p3b_238.039 Durch den geräumigen Bauch sind voll des gewappneten Kriegers. p3b_238.040 p3b_238.041 p3b_238.001 p3b_238.018 Übersetzung von Voß. p3b_238.022Unaussprechlichen Gram, o Königin, soll ich erneuern; p3b_238.023 Wie die trojanische Macht und die mitleidswürdige Herrschaft p3b_238.024 Danaer warfen in Staub; was ich selbst anschaute des Elends, p3b_238.025 Wessen ich selbst nicht wenig ertrug! Wer, solches erzählend, p3b_238.026 Myrmidon' und Doloper sei's, und des harten Ulysses p3b_238.027 Kriegsfreund, hemmte die Thrän'? Auch eilt die tauige Nacht schon p3b_238.028 Himmelab, und es laden die sinkenden Sterne zu Schlummer. p3b_238.029 Aber verlangt dich so sehr, zu erkundigen unsere Leiden, p3b_238.030 Und ihn kurz zu vernehmen, den endenden Jammer von Troja; p3b_238.031 Wie auch der Geist vor des Grames Erinnerung schaudernd zurückfährt, p3b_238.032 Will ich gehorchen dem Wunsch. Kriegssatt und gehemmet vom Schicksal, p3b_238.033 Harrten die Danaerfürsten so viel hingleitende Jahre; p3b_238.034 Ein bergähnliches Roß, durch göttliche Kunst der Minerva, p3b_238.035 Bauen sie jetzt, und spünden mit tannener Bohle die Rippen; p3b_238.036 Als ein Weihegeschenk für die Heimkehr; solch ein Gerücht fliegt. p3b_238.037 Hierin bergen sie heimlich vom Los erkorene Männer, p3b_238.038 Eingesperrt in der Seite Verschloß; und die Höhlungen ringsum p3b_238.039 Durch den geräumigen Bauch sind voll des gewappneten Kriegers. p3b_238.040 p3b_238.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0264" n="238"/> <p><lb n="p3b_238.001"/><hi rendition="#g">Wörtliche Übersetzung.</hi> Den unsäglichen Schmerz, o Königin, befiehlst <lb n="p3b_238.002"/> du zu erneuern, wie die Trojanische Macht und das bejammernswerte <lb n="p3b_238.003"/> Reich die Danaer zerstört haben, und was ich selbst so unglückliches gesehen <lb n="p3b_238.004"/> habe, und dessen großer Teil ich gewesen bin (wobei ich selbst eine große Rolle <lb n="p3b_238.005"/> spielte). Wer sollte bei solcher Erzählung unter den Myrmidonen oder Dolopern, <lb n="p3b_238.006"/> oder sogar welcher Krieger des harten Ulixes sollte sich der Thränen <lb n="p3b_238.007"/> enthalten! Und schon stürzt die feuchte Nacht vom Himmel nieder, und es <lb n="p3b_238.008"/> raten die fallenden Gestirne den Schlummer. Aber wenn so groß das Verlangen <lb n="p3b_238.009"/> ist, unsere Geschicke kennen zu lernen und kurz Troja's letzte Not zu <lb n="p3b_238.010"/> hören, so will ich, obgleich das Herz sich zu erinnern schaudert und vor Kummer <lb n="p3b_238.011"/> zurückbebte,* beginnen. Gebrochen vom Krieg und von den Schicksalssprüchen <lb n="p3b_238.012"/> zurückgetrieben, bauen die Führer der Danaer im Umlaufe schon so <lb n="p3b_238.013"/> vieler Jahre gleich einem Berg ein Pferd durch die göttliche Pallaskunst, und <lb n="p3b_238.014"/> aus gehauener Tanne fügen sie die Rippen ein; als ein Weihgeschenk für die <lb n="p3b_238.015"/> Rückkehr geben sie es aus; dieses Gerücht verbreitet sich. Darein schließen <lb n="p3b_238.016"/> sie durchs Los ausgewählte Männergestalten heimlich ein in die dunkle Seite, <lb n="p3b_238.017"/> und füllen gänzlich die großen Höhlungen und den Bauch mit bewaffnetem Krieger.</p> <p><lb n="p3b_238.018"/> * (<hi rendition="#aq">NB</hi>. <hi rendition="#g">Zurückbebte</hi> ist wörtliche Übersetzung, da <hi rendition="#aq">refugit</hi> als Hexameterschluß <lb n="p3b_238.019"/> <hi rendition="#g">langes</hi> <hi rendition="#aq">u</hi> haben muß, was bloß im Perfekt der Fall ist. Vgl. auch <lb n="p3b_238.020"/> die Bemerkung der Wagnerschen Ausgabe.)</p> <lb n="p3b_238.021"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Übersetzung von Voß.</hi> </hi> </p> <lb n="p3b_238.022"/> <lg> <l>Unaussprechlichen Gram, o Königin, soll ich erneuern;</l> <lb n="p3b_238.023"/> <l>Wie die trojanische Macht und die mitleidswürdige Herrschaft</l> <lb n="p3b_238.024"/> <l>Danaer warfen in Staub; was ich selbst anschaute des Elends,</l> <lb n="p3b_238.025"/> <l>Wessen ich selbst nicht wenig ertrug! Wer, solches erzählend,</l> <lb n="p3b_238.026"/> <l>Myrmidon' und Doloper sei's, und des harten Ulysses</l> <lb n="p3b_238.027"/> <l>Kriegsfreund, hemmte die Thrän'? 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Wörtliche Übersetzung. Den unsäglichen Schmerz, o Königin, befiehlst p3b_238.002
du zu erneuern, wie die Trojanische Macht und das bejammernswerte p3b_238.003
Reich die Danaer zerstört haben, und was ich selbst so unglückliches gesehen p3b_238.004
habe, und dessen großer Teil ich gewesen bin (wobei ich selbst eine große Rolle p3b_238.005
spielte). Wer sollte bei solcher Erzählung unter den Myrmidonen oder Dolopern, p3b_238.006
oder sogar welcher Krieger des harten Ulixes sollte sich der Thränen p3b_238.007
enthalten! Und schon stürzt die feuchte Nacht vom Himmel nieder, und es p3b_238.008
raten die fallenden Gestirne den Schlummer. Aber wenn so groß das Verlangen p3b_238.009
ist, unsere Geschicke kennen zu lernen und kurz Troja's letzte Not zu p3b_238.010
hören, so will ich, obgleich das Herz sich zu erinnern schaudert und vor Kummer p3b_238.011
zurückbebte,* beginnen. Gebrochen vom Krieg und von den Schicksalssprüchen p3b_238.012
zurückgetrieben, bauen die Führer der Danaer im Umlaufe schon so p3b_238.013
vieler Jahre gleich einem Berg ein Pferd durch die göttliche Pallaskunst, und p3b_238.014
aus gehauener Tanne fügen sie die Rippen ein; als ein Weihgeschenk für die p3b_238.015
Rückkehr geben sie es aus; dieses Gerücht verbreitet sich. Darein schließen p3b_238.016
sie durchs Los ausgewählte Männergestalten heimlich ein in die dunkle Seite, p3b_238.017
und füllen gänzlich die großen Höhlungen und den Bauch mit bewaffnetem Krieger.
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* (NB. Zurückbebte ist wörtliche Übersetzung, da refugit als Hexameterschluß p3b_238.019
langes u haben muß, was bloß im Perfekt der Fall ist. Vgl. auch p3b_238.020
die Bemerkung der Wagnerschen Ausgabe.)
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Übersetzung von Voß.
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Unaussprechlichen Gram, o Königin, soll ich erneuern; p3b_238.023
Wie die trojanische Macht und die mitleidswürdige Herrschaft p3b_238.024
Danaer warfen in Staub; was ich selbst anschaute des Elends, p3b_238.025
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Myrmidon' und Doloper sei's, und des harten Ulysses p3b_238.027
Kriegsfreund, hemmte die Thrän'? Auch eilt die tauige Nacht schon p3b_238.028
Himmelab, und es laden die sinkenden Sterne zu Schlummer. p3b_238.029
Aber verlangt dich so sehr, zu erkundigen unsere Leiden, p3b_238.030
Und ihn kurz zu vernehmen, den endenden Jammer von Troja; p3b_238.031
Wie auch der Geist vor des Grames Erinnerung schaudernd zurückfährt, p3b_238.032
Will ich gehorchen dem Wunsch. Kriegssatt und gehemmet vom Schicksal, p3b_238.033
Harrten die Danaerfürsten so viel hingleitende Jahre; p3b_238.034
Ein bergähnliches Roß, durch göttliche Kunst der Minerva, p3b_238.035
Bauen sie jetzt, und spünden mit tannener Bohle die Rippen; p3b_238.036
Als ein Weihegeschenk für die Heimkehr; solch ein Gerücht fliegt. p3b_238.037
Hierin bergen sie heimlich vom Los erkorene Männer, p3b_238.038
Eingesperrt in der Seite Verschloß; und die Höhlungen ringsum p3b_238.039
Durch den geräumigen Bauch sind voll des gewappneten Kriegers.
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Bemerkungen zu vorstehender Übersetzung.
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Die Voßsche Übersetzung ist etwas prosaisch und manchmal ungenau, p3b_238.042
beinahe unrichtig. „Was ich selbst anschaute: des Elends.“ Dieser
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Zitationshilfe: | Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/264>, abgerufen am 16.02.2025. |