Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_202.001 p3b_202.008 p3b_202.012 p3b_202.017 p3b_202.020 p3b_202.026 p3b_202.032 p3b_202.037 p3b_202.044 p3b_202.001 p3b_202.008 p3b_202.012 p3b_202.017 p3b_202.020 p3b_202.026 p3b_202.032 p3b_202.037 p3b_202.044 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0228" n="202"/> <p><lb n="p3b_202.001"/> 5. Wenn auch in einzelnen kürzeren Dichtungen eine wortgetreue Wiedergabe <lb n="p3b_202.002"/> sich nicht schlecht lesen mag, so ist in anderen Dichtungen diese peinliche <lb n="p3b_202.003"/> Treue weder ratsam noch möglich. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, so <lb n="p3b_202.004"/> gesteht Gust. Zeller in seiner Übersetzung kleinerer Gedichte Tegners (1862), <lb n="p3b_202.005"/> daß er nicht immer den Wortlaut beibehalten konnte, ja, daß eine kleine <lb n="p3b_202.006"/> Unregelmäßigkeit im Rhythmus und Reim hie und da eintreten mußte, wenn <lb n="p3b_202.007"/> der schöne Gedanke nicht verdorben werden sollte &c.</p> <p><lb n="p3b_202.008"/> 6. Es ist unbestrittene Thatsache, daß z. B. in einzelnen Chorgesängen <lb n="p3b_202.009"/> des Äschylos mit ihrem musikalischen Gehalte, ferner in Pindarschen Rhythmen <lb n="p3b_202.010"/> mit der Worttreue die Entfernung von Ton und Stil unserer Sprache zunimmt, <lb n="p3b_202.011"/> daß somit das Resultat Steifheit und Verkünstelung wird.</p> <p><lb n="p3b_202.012"/> 7. Vollends kann Scherz und Komik bei einzelnen Dichtern (z. B. in <lb n="p3b_202.013"/> den Komödien des Plautus) gar nicht wiedergegeben werden, wenn sich der <lb n="p3b_202.014"/> Übersetzer nicht freiere Wortbildungen, Umschreibungen und Wendungen gestatten <lb n="p3b_202.015"/> darf. (Am deutlichsten wird dies durch die Tieck-Schlegelsche Übersetzung <lb n="p3b_202.016"/> des Shakespeare illustriert.)</p> <p><lb n="p3b_202.017"/> 8. Dies gilt auch von jenen Dichtungen, welche nur das Resultat von <lb n="p3b_202.018"/> Verstand und Geschmack sind und bei denen der verstärkte, rhythmische Takt <lb n="p3b_202.019"/> durchaus nicht den einfachen poetischen Hauch ersetzt.</p> <p><lb n="p3b_202.020"/> 9. Daraus folgt, daß zwar jede Übersetzung die Jndividualität des <lb n="p3b_202.021"/> Schriftstellers und den besonderen Ton desselben wiedergeben soll, nicht aber <lb n="p3b_202.022"/> sein Jdiom. Die absichtsvolle Kürze eines Tacitus, die Redefülle eines Cicero, <lb n="p3b_202.023"/> die Schlichtheit eines Horaz (namentlich in den Episteln) sind wesentliche Momente, <lb n="p3b_202.024"/> welche die Übersetzung beachten muß und kann, ohne der Sprache Gewalt <lb n="p3b_202.025"/> anzuthun.</p> <p><lb n="p3b_202.026"/> 10. Jn England, Frankreich, Jtalien &c. hat man niemals dem Übersetzer <lb n="p3b_202.027"/> ein größeres Recht über die Muttersprache eingeräumt, als dem nationalen <lb n="p3b_202.028"/> Dichter. Mit Recht dürfen auch wir angesichts unserer nunmehr fertigen <lb n="p3b_202.029"/> Sprache die Anmaßung jener Übersetzer der Neuzeit zurückweisen, welche mit <lb n="p3b_202.030"/> unserer Sprache in einer Weise umgehen, wie sich dies seit Goethe kein einziger <lb n="p3b_202.031"/> deutsch nationaler Dichter mehr gestattete.</p> <p><lb n="p3b_202.032"/> 11. Wer nur wortgetreu übersetzt, d. h. wer nur die im Worte ausgedrückten <lb n="p3b_202.033"/> Begriffe wiedergiebt, ohne zugleich bestimmte Empfindungen mit anklingen <lb n="p3b_202.034"/> zu lassen, wer nur einzelnes erfaßt, ohne das Ganze (die Hauptidee <lb n="p3b_202.035"/> des Kunstwerks) zu berücksichtigen, wird nur unlesbare, stümperhafte Übersetzungen <lb n="p3b_202.036"/> liefern.</p> <p><lb n="p3b_202.037"/> 12. Es muß daher Grundsatz für den Übersetzer werden, im Notfall <lb n="p3b_202.038"/> einmal die wörtliche Treue der Verständlichkeit und dem Wohllaute zu opfern, <lb n="p3b_202.039"/> also der allzustrengen Observanz eine etwas freiere Übersetzungsmethode gegenüber <lb n="p3b_202.040"/> zu stellen. Es ist jedenfalls besser, den in seiner Treue steif und hölzern <lb n="p3b_202.041"/> erscheinenden Vers lockerer und minder korrekt zu fügen, als ungelenk und <lb n="p3b_202.042"/> unnatürlich, damit er sich vertraulich dem deutschen Ohre anschmiege und etwas <lb n="p3b_202.043"/> vom Reiz und Gepräge des <hi rendition="#g">Freigeschaffenen</hi> erhalte.</p> <p><lb n="p3b_202.044"/> 13. Mit Recht haben nach Goethe's, Schiller's, Herder's und Platen's </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [202/0228]
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5. Wenn auch in einzelnen kürzeren Dichtungen eine wortgetreue Wiedergabe p3b_202.002
sich nicht schlecht lesen mag, so ist in anderen Dichtungen diese peinliche p3b_202.003
Treue weder ratsam noch möglich. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, so p3b_202.004
gesteht Gust. Zeller in seiner Übersetzung kleinerer Gedichte Tegners (1862), p3b_202.005
daß er nicht immer den Wortlaut beibehalten konnte, ja, daß eine kleine p3b_202.006
Unregelmäßigkeit im Rhythmus und Reim hie und da eintreten mußte, wenn p3b_202.007
der schöne Gedanke nicht verdorben werden sollte &c.
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6. Es ist unbestrittene Thatsache, daß z. B. in einzelnen Chorgesängen p3b_202.009
des Äschylos mit ihrem musikalischen Gehalte, ferner in Pindarschen Rhythmen p3b_202.010
mit der Worttreue die Entfernung von Ton und Stil unserer Sprache zunimmt, p3b_202.011
daß somit das Resultat Steifheit und Verkünstelung wird.
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7. Vollends kann Scherz und Komik bei einzelnen Dichtern (z. B. in p3b_202.013
den Komödien des Plautus) gar nicht wiedergegeben werden, wenn sich der p3b_202.014
Übersetzer nicht freiere Wortbildungen, Umschreibungen und Wendungen gestatten p3b_202.015
darf. (Am deutlichsten wird dies durch die Tieck-Schlegelsche Übersetzung p3b_202.016
des Shakespeare illustriert.)
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8. Dies gilt auch von jenen Dichtungen, welche nur das Resultat von p3b_202.018
Verstand und Geschmack sind und bei denen der verstärkte, rhythmische Takt p3b_202.019
durchaus nicht den einfachen poetischen Hauch ersetzt.
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9. Daraus folgt, daß zwar jede Übersetzung die Jndividualität des p3b_202.021
Schriftstellers und den besonderen Ton desselben wiedergeben soll, nicht aber p3b_202.022
sein Jdiom. Die absichtsvolle Kürze eines Tacitus, die Redefülle eines Cicero, p3b_202.023
die Schlichtheit eines Horaz (namentlich in den Episteln) sind wesentliche Momente, p3b_202.024
welche die Übersetzung beachten muß und kann, ohne der Sprache Gewalt p3b_202.025
anzuthun.
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10. Jn England, Frankreich, Jtalien &c. hat man niemals dem Übersetzer p3b_202.027
ein größeres Recht über die Muttersprache eingeräumt, als dem nationalen p3b_202.028
Dichter. Mit Recht dürfen auch wir angesichts unserer nunmehr fertigen p3b_202.029
Sprache die Anmaßung jener Übersetzer der Neuzeit zurückweisen, welche mit p3b_202.030
unserer Sprache in einer Weise umgehen, wie sich dies seit Goethe kein einziger p3b_202.031
deutsch nationaler Dichter mehr gestattete.
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11. Wer nur wortgetreu übersetzt, d. h. wer nur die im Worte ausgedrückten p3b_202.033
Begriffe wiedergiebt, ohne zugleich bestimmte Empfindungen mit anklingen p3b_202.034
zu lassen, wer nur einzelnes erfaßt, ohne das Ganze (die Hauptidee p3b_202.035
des Kunstwerks) zu berücksichtigen, wird nur unlesbare, stümperhafte Übersetzungen p3b_202.036
liefern.
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einmal die wörtliche Treue der Verständlichkeit und dem Wohllaute zu opfern, p3b_202.039
also der allzustrengen Observanz eine etwas freiere Übersetzungsmethode gegenüber p3b_202.040
zu stellen. Es ist jedenfalls besser, den in seiner Treue steif und hölzern p3b_202.041
erscheinenden Vers lockerer und minder korrekt zu fügen, als ungelenk und p3b_202.042
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vom Reiz und Gepräge des Freigeschaffenen erhalte.
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13. Mit Recht haben nach Goethe's, Schiller's, Herder's und Platen's
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