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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.

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B. Gebrochene mittelhochdeutsche Nibelungen-Verszeilen.


Aufgabe 1. a. Ohne Cäsurreim.


Zwei Särge.
[Beginn Spaltensatz] Stoff.


1. Jm Dome stehen einsam │ zwei
Särge, │ in dem einen ruht König Ottmar,
│ im andern der Sänger. ‖ 2. Der
König führte einst mit Macht │ sein Scepter,
│ drum hat er noch das Schwert
in der Rechten │ und die Krone auf dem
Haupte. ‖ 3. Neben dem stolzen König │
liegt der Sänger; │ ihm hat man die
Harfe │ in die Hände gelegt. ‖ 4. Die
Burgen zerfallen, │ und der Schlachtruf
erschallt, │ aber das Schwert in
des Königs Hand │ bleibt unbeweglich. ‖
5. Doch wenn das Land in Blüte
steht │ und die milden Lüfte erwachen, │
da klingt noch die Harfe des Sängers
fort │ in ewigem Gesang. ‖

[Spaltenumbruch]

Lösung. Von Justinus Kerner.


Zwei Särge einsam stehen
Jn des alten Domes Hut,
König Ottmar liegt in dem einen,
Jn dem andern der Sänger ruht.

Der König saß einst mächtig
Hoch auf der Väter Thron,
Jhm liegt das Schwert in der Rechten
Und auf dem Haupte die Kron'.

Doch neben dem stolzen König
Da liegt der Sänger traut,
Man noch in seinen Händen
Die fromme Harfe schaut.

Die Burgen rings zerfallen,
Schlachtruf tönt durch das Land,
Das Schwert, das regt sich nimmer
Da in des Königs Hand.

Blüten und milde Lüfte
Wehen das Thal entlang ─
Des Sängers Harfe tönet
Jn ewigem Gesang.
[Ende Spaltensatz]


Aufgabe 2. b. Mit Cäsurreim.


Hoffnung.


[Beginn Spaltensatz]

Stoff.


1. O milde Blume Hoffnung, │
ich begieße dich jeden Tag; │ du hast
dich dem weinenden Herzen │ zum
Eigentum ergeben. ‖ 2. Deine Blüten
und Blätter │ streben dem Himmel entgegen.
│ Doch bedarfst du nicht das
Sonnenlicht, │ wohl aber ein menschliches
Herz. ‖ 3. Jhr schönen Gartenblumen,
│ was soll mir euer Schein? │
Jch will nur die einzige Hoffnungsblume
│ pflegen und warten. ‖

[Spaltenumbruch]

Lösung. Von Hermann Kletke.


O Hoffnung, milde Blume,
Täglich begieß' ich dich;
Du gabst zum Eigentume
Dem weinenden Herzen dich.

Blüten und Blätter, immer
Streben sie himmelwärts;
Nicht brauchst du der Sonne Schimmer,
Du brauchst ein menschliches Herz!

Jhr prangenden Blumen im Garten,
Was hilft mir der bunte Schein?
Pflegen will ich und warten
Der lieben Blume allein.
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/114>, abgerufen am 19.12.2024.