p2b_524.002 1. Wagners Nibelungen sind eine Tetralogie im antiken Sinn.
p2b_524.003 2. Sie sind eine epochebildende, musikalische That.
p2b_524.004 3. Zu ihrem Verständnis gehört ein gebildeter Geschmack, p2b_524.005 ähnlich wie ein reines Genießen des Goetheschen Faust ein gesteigertesp2b_524.006 Verständnis und hohe Bildung voraussetzt.
p2b_524.007 1. Jn der Blütezeit der griechischen Tragödie bestand in Athen die p2b_524.008 Übung, daß, wenn ein Dichter bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste p2b_524.009 eine zusammenhängende Dreiheit von Tragödien (eine sog. Trilogie) vorführte, p2b_524.010 noch als viertes ein Satyrspiel beigegeben wurde, wodurch die Trilogie p2b_524.011 zur Tetralogie wurde. Ähnlich ist Wagners Trilogie gebaut, welcher ein viertes p2b_524.012 Stück (Rheingold; etwa wie Wallensteins Lager von Schiller) als Vorspiel p2b_524.013 beigegeben ist.
p2b_524.014 Es ist Wagner gelungen, in seiner Nibelungentetralogie einen Dramencyclus p2b_524.015 zu schaffen, der vielleicht am ersten mit dem Prometheus des Äschylusp2b_524.016 verglichen werden darf, soweit nach dem erhaltenen Fragmente des letzteren p2b_524.017 Werkes ein Schluß aufs Ganze berechtigt ist. Die eigentliche Vereinigung von p2b_524.018 philosophischem Tiefsinn und realistischer Darstellungskunst, welche dem Wagnerschen p2b_524.019 Geist eigen ist, gelangt in dieser Dichtung zu einer harmonischen Verschmelzung p2b_524.020 mit der Poesie.
p2b_524.021 2. Die äußere Physiognomie ist dabei nicht etwa einem anderen Volk p2b_524.022 abgeborgt, sondern vielmehr aus der innersten Wurzel des deutschen Wesens p2b_524.023 emporgewachsen, um als Zeugnis der Tiefe seines Gemütes und der Jnnerlichkeit p2b_524.024 seiner Empfindungen dazustehen. Unstreitig liegt der wahrhaft poetische p2b_524.025 Wert dieses Musikdramencyklus in der Dichtung, in der poetischen Organisation p2b_524.026 des Stoffes und in der dichterischen Neuschöpfung der Charaktere, während p2b_524.027 alles, was zur Äußerung des Gedichts gehört: Diktion, Sententiosität, Pathos, p2b_524.028 nunmehr in wirksamerer Weise zu ersetzen Aufgabe der berufeneren Schwester Musik p2b_524.029 ward. Was aber auch schon an der sprachlichen Äußerungsweise der Dichtung p2b_524.030 (also am eigentlichen Texte) von hohem künstlerischen Werte sich zeigt: Rhythmus p2b_524.031 und Lautsymbolik, das sind eben nur Dinge, an welchen (wie Wolzogen so schön p2b_524.032 in Lautsymbolik S. 6 ausführt) die Musik von vornherein wesentlichen Anteil p2b_524.033 hat. Zumal die instinktiv angewandte Lautsymbolik war das Werk eines p2b_524.034 musikalisch empfindenden Dichters. Da aber häufig ganz offenbar auch Absicht p2b_524.035 gewaltet, so bietet uns Wagners Dramencyklus die Lautsymbolik aus den beiden p2b_524.036 möglichen Quellen, poetischer Absicht und musikalischem Jnstinkt, zugleich dar.
p2b_524.037 3. Wagners Tetralogie setzt zu ihrem vollen Verständnis Vertrautheit mit p2b_524.038 dem philosophischen Jdeenkreise des Textes voraus, und Wagner ist daher im Jrrtum, p2b_524.039 wenn er meint, daß diese Musik auch auf den Ungebildeten die gleiche Wirkung p2b_524.040 übe. Es ist dies der Jrrtum Rousseaus vom reinen Menschen. Der reinep2b_524.041 Mensch ist eben der Mensch der entwickelten höchsten Kultur, nicht der Mensch p2b_524.042 der Vergangenheit, welchen die Entwickelungsgeschichte in einer so traurigen
p2b_524.001
§ 190. Wagners Tetralogie.
p2b_524.002 1. Wagners Nibelungen sind eine Tetralogie im antiken Sinn.
p2b_524.003 2. Sie sind eine epochebildende, musikalische That.
p2b_524.004 3. Zu ihrem Verständnis gehört ein gebildeter Geschmack, p2b_524.005 ähnlich wie ein reines Genießen des Goetheschen Faust ein gesteigertesp2b_524.006 Verständnis und hohe Bildung voraussetzt.
p2b_524.007 1. Jn der Blütezeit der griechischen Tragödie bestand in Athen die p2b_524.008 Übung, daß, wenn ein Dichter bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste p2b_524.009 eine zusammenhängende Dreiheit von Tragödien (eine sog. Trilogie) vorführte, p2b_524.010 noch als viertes ein Satyrspiel beigegeben wurde, wodurch die Trilogie p2b_524.011 zur Tetralogie wurde. Ähnlich ist Wagners Trilogie gebaut, welcher ein viertes p2b_524.012 Stück (Rheingold; etwa wie Wallensteins Lager von Schiller) als Vorspiel p2b_524.013 beigegeben ist.
p2b_524.014 Es ist Wagner gelungen, in seiner Nibelungentetralogie einen Dramencyclus p2b_524.015 zu schaffen, der vielleicht am ersten mit dem Prometheus des Äschylusp2b_524.016 verglichen werden darf, soweit nach dem erhaltenen Fragmente des letzteren p2b_524.017 Werkes ein Schluß aufs Ganze berechtigt ist. Die eigentliche Vereinigung von p2b_524.018 philosophischem Tiefsinn und realistischer Darstellungskunst, welche dem Wagnerschen p2b_524.019 Geist eigen ist, gelangt in dieser Dichtung zu einer harmonischen Verschmelzung p2b_524.020 mit der Poesie.
p2b_524.021 2. Die äußere Physiognomie ist dabei nicht etwa einem anderen Volk p2b_524.022 abgeborgt, sondern vielmehr aus der innersten Wurzel des deutschen Wesens p2b_524.023 emporgewachsen, um als Zeugnis der Tiefe seines Gemütes und der Jnnerlichkeit p2b_524.024 seiner Empfindungen dazustehen. Unstreitig liegt der wahrhaft poetische p2b_524.025 Wert dieses Musikdramencyklus in der Dichtung, in der poetischen Organisation p2b_524.026 des Stoffes und in der dichterischen Neuschöpfung der Charaktere, während p2b_524.027 alles, was zur Äußerung des Gedichts gehört: Diktion, Sententiosität, Pathos, p2b_524.028 nunmehr in wirksamerer Weise zu ersetzen Aufgabe der berufeneren Schwester Musik p2b_524.029 ward. Was aber auch schon an der sprachlichen Äußerungsweise der Dichtung p2b_524.030 (also am eigentlichen Texte) von hohem künstlerischen Werte sich zeigt: Rhythmus p2b_524.031 und Lautsymbolik, das sind eben nur Dinge, an welchen (wie Wolzogen so schön p2b_524.032 in Lautsymbolik S. 6 ausführt) die Musik von vornherein wesentlichen Anteil p2b_524.033 hat. Zumal die instinktiv angewandte Lautsymbolik war das Werk eines p2b_524.034 musikalisch empfindenden Dichters. Da aber häufig ganz offenbar auch Absicht p2b_524.035 gewaltet, so bietet uns Wagners Dramencyklus die Lautsymbolik aus den beiden p2b_524.036 möglichen Quellen, poetischer Absicht und musikalischem Jnstinkt, zugleich dar.
p2b_524.037 3. Wagners Tetralogie setzt zu ihrem vollen Verständnis Vertrautheit mit p2b_524.038 dem philosophischen Jdeenkreise des Textes voraus, und Wagner ist daher im Jrrtum, p2b_524.039 wenn er meint, daß diese Musik auch auf den Ungebildeten die gleiche Wirkung p2b_524.040 übe. Es ist dies der Jrrtum Rousseaus vom reinen Menschen. Der reinep2b_524.041 Mensch ist eben der Mensch der entwickelten höchsten Kultur, nicht der Mensch p2b_524.042 der Vergangenheit, welchen die Entwickelungsgeschichte in einer so traurigen
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§ 190. Wagners Tetralogie. p2b_524.002
1. Wagners Nibelungen sind eine Tetralogie im antiken Sinn.
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2. Sie sind eine epochebildende, musikalische That.
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3. Zu ihrem Verständnis gehört ein gebildeter Geschmack, p2b_524.005
ähnlich wie ein reines Genießen des Goetheschen Faust ein gesteigertes p2b_524.006
Verständnis und hohe Bildung voraussetzt.
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1. Jn der Blütezeit der griechischen Tragödie bestand in Athen die p2b_524.008
Übung, daß, wenn ein Dichter bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste p2b_524.009
eine zusammenhängende Dreiheit von Tragödien (eine sog. Trilogie) vorführte, p2b_524.010
noch als viertes ein Satyrspiel beigegeben wurde, wodurch die Trilogie p2b_524.011
zur Tetralogie wurde. Ähnlich ist Wagners Trilogie gebaut, welcher ein viertes p2b_524.012
Stück (Rheingold; etwa wie Wallensteins Lager von Schiller) als Vorspiel p2b_524.013
beigegeben ist.
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Es ist Wagner gelungen, in seiner Nibelungentetralogie einen Dramencyclus p2b_524.015
zu schaffen, der vielleicht am ersten mit dem Prometheus des Äschylus p2b_524.016
verglichen werden darf, soweit nach dem erhaltenen Fragmente des letzteren p2b_524.017
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philosophischem Tiefsinn und realistischer Darstellungskunst, welche dem Wagnerschen p2b_524.019
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2. Die äußere Physiognomie ist dabei nicht etwa einem anderen Volk p2b_524.022
abgeborgt, sondern vielmehr aus der innersten Wurzel des deutschen Wesens p2b_524.023
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seiner Empfindungen dazustehen. Unstreitig liegt der wahrhaft poetische p2b_524.025
Wert dieses Musikdramencyklus in der Dichtung, in der poetischen Organisation p2b_524.026
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(also am eigentlichen Texte) von hohem künstlerischen Werte sich zeigt: Rhythmus p2b_524.031
und Lautsymbolik, das sind eben nur Dinge, an welchen (wie Wolzogen so schön p2b_524.032
in Lautsymbolik S. 6 ausführt) die Musik von vornherein wesentlichen Anteil p2b_524.033
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musikalisch empfindenden Dichters. Da aber häufig ganz offenbar auch Absicht p2b_524.035
gewaltet, so bietet uns Wagners Dramencyklus die Lautsymbolik aus den beiden p2b_524.036
möglichen Quellen, poetischer Absicht und musikalischem Jnstinkt, zugleich dar.
p2b_524.037
3. Wagners Tetralogie setzt zu ihrem vollen Verständnis Vertrautheit mit p2b_524.038
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wenn er meint, daß diese Musik auch auf den Ungebildeten die gleiche Wirkung p2b_524.040
übe. Es ist dies der Jrrtum Rousseaus vom reinen Menschen. Der reine p2b_524.041
Mensch ist eben der Mensch der entwickelten höchsten Kultur, nicht der Mensch p2b_524.042
der Vergangenheit, welchen die Entwickelungsgeschichte in einer so traurigen
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/546>, abgerufen am 22.11.2024.
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