p2b_437.001 Kaisers zu dem schönen Jünglinge Antinous dramatisch behandelt wird, bloß p2b_437.002 um weniges näher tritt &c. Mit Recht sagt Klein (Gesch. des Drama IIIp2b_437.003 536): Der griechische Kunst- und Staatsgeist konnte die Liebe nur individualisiert, p2b_437.004 verhüllt und maskiert, gleichsam in festbegrenzten, naturbestimmten, in sich p2b_437.005 selbst abgeschlossenen, also immer noch selbstischen Formen erschauen. Über den p2b_437.006 Nationalitätsbegriff, den Staats- und Familienkultus, die Stammesliebe und p2b_437.007 Freiheit, und Aufopferung für diese Liebe und Freiheit erhob sich die Menschheitsidee p2b_437.008 der Griechen nicht. Nur unter dieser Gestalt tritt die Liebe in ihrem p2b_437.009 Drama auf, als Haupttriebfeder und Läuterungsmotiv. Vater=, Bruder= p2b_437.010 Schwesterliebe, Aufopferungsliebe für Staat und Stadt: darin verläuft und p2b_437.011 erschöpft sich der tragisch=ethische Reinigungsprozeß im griechischen Drama. Die p2b_437.012 Geschlechterliebe, selbst in ihrer reinsten Form als bräutliche und Gattenliebe, p2b_437.013 tritt hinter jene so entschieden zurück, daß sie in der ungefälschten, großen p2b_437.014 Tragödie nicht als Hauptmotiv wirken, nicht als heroische Leidenschaft sich p2b_437.015 hervorstellen darf. -
p2b_437.016 5. Bei unseren meist philosophischen Wahrnehmungen, wo Wunsch mit p2b_437.017 Wunsch, Empfindung mit Gefühl, Leidenschaft mit verdeckter Begierde kämpfen, p2b_437.018 gestaltet sich natürlich die Darstellung und Bearbeitung der Tragödie p2b_437.019 philosophischer. Wir haben auch weit mehr Bedürfnis zur Menschenbeobachtung, p2b_437.020 um das Raffinement verkehrter Bildungen verstehen zu lernen und in die p2b_437.021 Kombination der Leidenschaft und des Affekts einzudringen, als dies bei den p2b_437.022 Griechen der Fall war. Weiter ist unser geistiges und nationales Leben ein p2b_437.023 so eigenartiges, daß uns dadurch schon eigene Bahnen gezogen sind. Unsere p2b_437.024 philosophische Entwickelung drängt uns, z. B. die Leidenschaft eigenartig, typisch p2b_437.025 zu verwerten. Die Leidenschaft an sich hat sich im Leben der Völker, im Laufe p2b_437.026 der Jahrhunderte mit dem Streben nach Besitz, Wohlstand, Glück und Liebesgemeinschaft, p2b_437.027 mit der Veredlung der Lebensweise und dem zunehmenden Luxus, p2b_437.028 mit dem Emporquellen des Lasters (man betrachte den Hof eines Ludwig XIV.), p2b_437.029 mit dem kriechenden Wesen, mit Neid und Verstellung anders entfaltet, als p2b_437.030 das früher bei den einfachen Griechen, ja, selbst noch zur Zeit des schwelgerischen p2b_437.031 Tiberius und seiner Nachfolger der Fall war.
p2b_437.032 Bei der griechischen Tragödie war es das Eingreifen der Götter, oder p2b_437.033 das Handeln gottähnlicher Personen, welche den musikalischen Rhythmus, die p2b_437.034 Deklamation, die rhetorischen Erörterungen, die Chorgesänge zwischen jedem Akte p2b_437.035 und den ganzen feierlichen Ton der Tragödie erzeugten. Bei uns wird der p2b_437.036 Ton und die Haltung der Tragödie durch Zeichnung der Seelenzustände, durch p2b_437.037 psychologische Motivierung, durch philosophische Entfaltung der eigenartigen Jdeen p2b_437.038 geschaffen. Natürlich mußten die Alten innerhalb der Grenzen des allgemeinen p2b_437.039 bleiben, während wir bis in's Detail der Leidenschaft und Empfindung zur p2b_437.040 Erreichung unserer Absicht vordringen können. Bei den Griechen mußte die p2b_437.041 wenig philosophisch wirkende Tragödie dem großen Volke verständlich sein. Bei p2b_437.042 uns kann der Dichter schon einige Schritte dem Publikum voraus sein (nach p2b_437.043 Lessing soll er es sogar). Jn dieser Hinsicht kann man Goethe keinen Vorwurf p2b_437.044 machen wegen der philosophischen Durchdringung seiner Jphigenie. "Jch
p2b_437.001 Kaisers zu dem schönen Jünglinge Antinous dramatisch behandelt wird, bloß p2b_437.002 um weniges näher tritt &c. Mit Recht sagt Klein (Gesch. des Drama IIIp2b_437.003 536): Der griechische Kunst- und Staatsgeist konnte die Liebe nur individualisiert, p2b_437.004 verhüllt und maskiert, gleichsam in festbegrenzten, naturbestimmten, in sich p2b_437.005 selbst abgeschlossenen, also immer noch selbstischen Formen erschauen. Über den p2b_437.006 Nationalitätsbegriff, den Staats- und Familienkultus, die Stammesliebe und p2b_437.007 Freiheit, und Aufopferung für diese Liebe und Freiheit erhob sich die Menschheitsidee p2b_437.008 der Griechen nicht. Nur unter dieser Gestalt tritt die Liebe in ihrem p2b_437.009 Drama auf, als Haupttriebfeder und Läuterungsmotiv. Vater=, Bruder= p2b_437.010 Schwesterliebe, Aufopferungsliebe für Staat und Stadt: darin verläuft und p2b_437.011 erschöpft sich der tragisch=ethische Reinigungsprozeß im griechischen Drama. Die p2b_437.012 Geschlechterliebe, selbst in ihrer reinsten Form als bräutliche und Gattenliebe, p2b_437.013 tritt hinter jene so entschieden zurück, daß sie in der ungefälschten, großen p2b_437.014 Tragödie nicht als Hauptmotiv wirken, nicht als heroische Leidenschaft sich p2b_437.015 hervorstellen darf. ─
p2b_437.016 5. Bei unseren meist philosophischen Wahrnehmungen, wo Wunsch mit p2b_437.017 Wunsch, Empfindung mit Gefühl, Leidenschaft mit verdeckter Begierde kämpfen, p2b_437.018 gestaltet sich natürlich die Darstellung und Bearbeitung der Tragödie p2b_437.019 philosophischer. Wir haben auch weit mehr Bedürfnis zur Menschenbeobachtung, p2b_437.020 um das Raffinement verkehrter Bildungen verstehen zu lernen und in die p2b_437.021 Kombination der Leidenschaft und des Affekts einzudringen, als dies bei den p2b_437.022 Griechen der Fall war. Weiter ist unser geistiges und nationales Leben ein p2b_437.023 so eigenartiges, daß uns dadurch schon eigene Bahnen gezogen sind. Unsere p2b_437.024 philosophische Entwickelung drängt uns, z. B. die Leidenschaft eigenartig, typisch p2b_437.025 zu verwerten. Die Leidenschaft an sich hat sich im Leben der Völker, im Laufe p2b_437.026 der Jahrhunderte mit dem Streben nach Besitz, Wohlstand, Glück und Liebesgemeinschaft, p2b_437.027 mit der Veredlung der Lebensweise und dem zunehmenden Luxus, p2b_437.028 mit dem Emporquellen des Lasters (man betrachte den Hof eines Ludwig XIV.), p2b_437.029 mit dem kriechenden Wesen, mit Neid und Verstellung anders entfaltet, als p2b_437.030 das früher bei den einfachen Griechen, ja, selbst noch zur Zeit des schwelgerischen p2b_437.031 Tiberius und seiner Nachfolger der Fall war.
p2b_437.032 Bei der griechischen Tragödie war es das Eingreifen der Götter, oder p2b_437.033 das Handeln gottähnlicher Personen, welche den musikalischen Rhythmus, die p2b_437.034 Deklamation, die rhetorischen Erörterungen, die Chorgesänge zwischen jedem Akte p2b_437.035 und den ganzen feierlichen Ton der Tragödie erzeugten. Bei uns wird der p2b_437.036 Ton und die Haltung der Tragödie durch Zeichnung der Seelenzustände, durch p2b_437.037 psychologische Motivierung, durch philosophische Entfaltung der eigenartigen Jdeen p2b_437.038 geschaffen. Natürlich mußten die Alten innerhalb der Grenzen des allgemeinen p2b_437.039 bleiben, während wir bis in's Detail der Leidenschaft und Empfindung zur p2b_437.040 Erreichung unserer Absicht vordringen können. Bei den Griechen mußte die p2b_437.041 wenig philosophisch wirkende Tragödie dem großen Volke verständlich sein. Bei p2b_437.042 uns kann der Dichter schon einige Schritte dem Publikum voraus sein (nach p2b_437.043 Lessing soll er es sogar). Jn dieser Hinsicht kann man Goethe keinen Vorwurf p2b_437.044 machen wegen der philosophischen Durchdringung seiner Jphigenie. „Jch
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/459>, abgerufen am 22.11.2024.
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