p2b_427.001 das Unglück als die Folge seiner Schuld anerkennen müssen (vgl. Romeo, p2b_427.002 der seine Schuld noch am Sarg vermehrt), so entziehen wir ihm doch unsere p2b_427.003 Teilnahme nicht. Wir rechnen ihm diese Schuld (tragische Schuld) nicht an, p2b_427.004 wir erklären sie vielmehr daraus, daß er die Ordnung der Dinge gestört hat, p2b_427.005 daß er sich gegen die Gesetze einer Welt auflehnte, daß er zu viele Gegner p2b_427.006 fand, denen er trotz seiner Energie zum Opfer fiel, daß er Unglück hatte; mit p2b_427.007 einem Worte: wir erklären die tragische Schuld des Helden aus seiner geistigen p2b_427.008 Anlage, aus den Verhältnissen, ohne ihn dafür verantwortlich zu machen.
p2b_427.009 3. Das Tragische, das wir I S. 100 erörtert haben, und wozu Aristoteles p2b_427.010 schon den gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Verwundungen p2b_427.011 &c. zählt, kann im Trauerspiel nur dann von Wirkung sein, wenn p2b_427.012 es mit Notwendigkeit aus dem sittlichen Konflikt des Helden erwächst, wenn p2b_427.013 Unglück eintritt, obgleich der Held in allen Pflichten treu ist, wenn der Strom p2b_427.014 der äußeren Verhältnisse trotz alles ehrlichen Ankämpfens seinen Untergang p2b_427.015 durch das schließliche Eingreifen des Schicksals bedingt, wenn die individuelle p2b_427.016 Freiheit in Widerspruch mit höherer Naturnotwendigkeit gerät. (Beispiele: Hektor's p2b_427.017 Untergang, Siegfried's Tod.) Wenn der Tod durch Zufall eintritt (z. B. p2b_427.018 im Schiffbruch, im Gewitter), so kann man wohl auch von einem tragischen Ende p2b_427.019 im gewöhnlichen Sinn sprechen, nicht aber im Sinn der Tragödie, wo der p2b_427.020 Held in Kampf mit der bestehenden Weltordnung tritt.
p2b_427.021 Man unterscheidet in der Tragödie zunächst das Tragische des einfachen p2b_427.022 Konflikts (z. B. Ödipus' Jähzorn. Egmonts Unschlüssigkeit) vom p2b_427.023 Tragischen der sittlichen Kollision (Beispiele: Antigone, die mit Pietät p2b_427.024 und Staatsgesetz, das die Bestattung des Bruders untersagte, in Konflikt gerät, p2b_427.025 ferner Wallenstein, bei dem die Gehorsam fordernde Unterthanenpflicht den Konflikt p2b_427.026 bedingt, ferner der Tyrann Macbeth, der alle ermordet, welche ihm unbequem p2b_427.027 sind. Sein Eingriff in die Weltordnung führt seinen Untergang herbei, p2b_427.028 der tragisch, wehmuterzeugend wirkt, weil er eine sittliche Bedeutung hat und p2b_427.029 weil man sagt, daß er bei seinem Charakter so handeln mußte). Hier ist es p2b_427.030 das Zusammentreffen von unüberwindlichen, kollidierenden Verhältnissen und p2b_427.031 Hindernissen, also die Situation, dort der eigenartige Charakter.
p2b_427.032 4. Man nennt es tragische Jronie, wenn der Held in die Schlingen p2b_427.033 des seiner harrenden Strafgerichts verfällt, wo er schon im Begriff ist, den p2b_427.034 Weg der Schuld zu verlassen, wenn er das Rechte zu thun vermeint und das p2b_427.035 Gegenteil erreicht, wenn er also das Unglück auf sein Haupt heraufbeschwört - p2b_427.036 gerade durch die Mittel, die er zur Abwehr ergriffen hat. Vgl. den Ödipus p2b_427.037 in der Sophokleischen Tragödie, oder den Orestes, der die Mutter erschlägt, p2b_427.038 um den gemordeten Vater zu rächen, und der nun als Muttermörder von den p2b_427.039 Furien verfolgt wird. Das Tragische liegt hier in der Situation, in die der p2b_427.040 Held gerät, indem er den Willen der Gottheit ausführt und dann doch untergeht.
p2b_427.041 Hier liegt freilich die Auffassung des Werkzeugs nahe:
p2b_427.042
Jhr laßt den Armen schuldig werden;p2b_427.043 Dann überlaßt ihr ihn der Pein -p2b_427.044 Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
p2b_427.001 das Unglück als die Folge seiner Schuld anerkennen müssen (vgl. Romeo, p2b_427.002 der seine Schuld noch am Sarg vermehrt), so entziehen wir ihm doch unsere p2b_427.003 Teilnahme nicht. Wir rechnen ihm diese Schuld (tragische Schuld) nicht an, p2b_427.004 wir erklären sie vielmehr daraus, daß er die Ordnung der Dinge gestört hat, p2b_427.005 daß er sich gegen die Gesetze einer Welt auflehnte, daß er zu viele Gegner p2b_427.006 fand, denen er trotz seiner Energie zum Opfer fiel, daß er Unglück hatte; mit p2b_427.007 einem Worte: wir erklären die tragische Schuld des Helden aus seiner geistigen p2b_427.008 Anlage, aus den Verhältnissen, ohne ihn dafür verantwortlich zu machen.
p2b_427.009 3. Das Tragische, das wir I S. 100 erörtert haben, und wozu Aristoteles p2b_427.010 schon den gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Verwundungen p2b_427.011 &c. zählt, kann im Trauerspiel nur dann von Wirkung sein, wenn p2b_427.012 es mit Notwendigkeit aus dem sittlichen Konflikt des Helden erwächst, wenn p2b_427.013 Unglück eintritt, obgleich der Held in allen Pflichten treu ist, wenn der Strom p2b_427.014 der äußeren Verhältnisse trotz alles ehrlichen Ankämpfens seinen Untergang p2b_427.015 durch das schließliche Eingreifen des Schicksals bedingt, wenn die individuelle p2b_427.016 Freiheit in Widerspruch mit höherer Naturnotwendigkeit gerät. (Beispiele: Hektor's p2b_427.017 Untergang, Siegfried's Tod.) Wenn der Tod durch Zufall eintritt (z. B. p2b_427.018 im Schiffbruch, im Gewitter), so kann man wohl auch von einem tragischen Ende p2b_427.019 im gewöhnlichen Sinn sprechen, nicht aber im Sinn der Tragödie, wo der p2b_427.020 Held in Kampf mit der bestehenden Weltordnung tritt.
p2b_427.021 Man unterscheidet in der Tragödie zunächst das Tragische des einfachen p2b_427.022 Konflikts (z. B. Ödipus' Jähzorn. Egmonts Unschlüssigkeit) vom p2b_427.023 Tragischen der sittlichen Kollision (Beispiele: Antigone, die mit Pietät p2b_427.024 und Staatsgesetz, das die Bestattung des Bruders untersagte, in Konflikt gerät, p2b_427.025 ferner Wallenstein, bei dem die Gehorsam fordernde Unterthanenpflicht den Konflikt p2b_427.026 bedingt, ferner der Tyrann Macbeth, der alle ermordet, welche ihm unbequem p2b_427.027 sind. Sein Eingriff in die Weltordnung führt seinen Untergang herbei, p2b_427.028 der tragisch, wehmuterzeugend wirkt, weil er eine sittliche Bedeutung hat und p2b_427.029 weil man sagt, daß er bei seinem Charakter so handeln mußte). Hier ist es p2b_427.030 das Zusammentreffen von unüberwindlichen, kollidierenden Verhältnissen und p2b_427.031 Hindernissen, also die Situation, dort der eigenartige Charakter.
p2b_427.032 4. Man nennt es tragische Jronie, wenn der Held in die Schlingen p2b_427.033 des seiner harrenden Strafgerichts verfällt, wo er schon im Begriff ist, den p2b_427.034 Weg der Schuld zu verlassen, wenn er das Rechte zu thun vermeint und das p2b_427.035 Gegenteil erreicht, wenn er also das Unglück auf sein Haupt heraufbeschwört ─ p2b_427.036 gerade durch die Mittel, die er zur Abwehr ergriffen hat. Vgl. den Ödipus p2b_427.037 in der Sophokleischen Tragödie, oder den Orestes, der die Mutter erschlägt, p2b_427.038 um den gemordeten Vater zu rächen, und der nun als Muttermörder von den p2b_427.039 Furien verfolgt wird. Das Tragische liegt hier in der Situation, in die der p2b_427.040 Held gerät, indem er den Willen der Gottheit ausführt und dann doch untergeht.
p2b_427.041 Hier liegt freilich die Auffassung des Werkzeugs nahe:
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/449>, abgerufen am 22.11.2024.
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