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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser p2b_422.002
Mitleid zu erregen.

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Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch p2b_422.004
jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das p2b_422.005
die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leidenschaft p2b_422.006
nennt; ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschlossenheit &c. p2b_422.007
verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und p2b_422.008
zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint p2b_422.009
der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach p2b_422.010
einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie p2b_422.011
einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale p2b_422.012
des Menschen.

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Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424) p2b_422.014
ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht p2b_422.015
wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls p2b_422.016
beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert. p2b_422.017
Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie p2b_422.018
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ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie p2b_422.019
thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer p2b_422.020
für sie übrig: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt", und "Es ist vollbracht!" p2b_422.021
Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder. p2b_422.022
(Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)

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2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): "Wenn wir die Beziehungen p2b_422.024
unseres Daseins bis an die äußerste Grenze der Möglichkeiten überschauen, p2b_422.025
wenn wir dessen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Verkettung p2b_422.026
der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülflos p2b_422.027
gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräfte und streitender Begierden an die p2b_422.028
Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt p2b_422.029
schon schiffbrüchig; wie wir allen Jrrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind, p2b_422.030
deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen p2b_422.031
Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten p2b_422.032
die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns fordern, und durch einen p2b_422.033
plötzlichen Schlag uns alles Schwer-Erworbene rauben kann; wie mit jeder p2b_422.034
Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken p2b_422.035
des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes p2b_422.036
nicht dem Gefühl verschlossene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut p2b_422.037
befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußtsein p2b_422.038
eines über das Jrdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische p2b_422.039
Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklichkeit p2b_422.040
aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Beispiele p2b_422.041
von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale, vom Unterliegen p2b_422.042
des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt p2b_422.043
und beseelt: dann entsteht tragische Poesie." (Vgl. I S. 100.)

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Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser p2b_422.002
Mitleid zu erregen.

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Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch p2b_422.004
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einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale p2b_422.012
des Menschen.

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Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424) p2b_422.014
ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht p2b_422.015
wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls p2b_422.016
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Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder. p2b_422.022
(Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)

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2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): „Wenn wir die Beziehungen p2b_422.024
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/444>, abgerufen am 22.11.2024.