Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_343.001 p2b_343.004 p2b_343.006 Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe. p2b_343.012Siebenter Gesang. p2b_343.013Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet, p2b_343.014 Manche Ritter kamen dahin; den sämtlichen Tieren p2b_343.015 Folgten unzählige Vögel und alle zusammen verehrten p2b_343.016 Braun und Jsegrim hoch, die ihrer Leiden vergaßen. p2b_343.017 Da ergötzte sich festlich die beste Gesellschaft, die jemals p2b_343.018 Nur beisammen gewesen; Trompeten und Pauken erklangen, p2b_343.019 Und den Hoftanz führte man auf mit guten Manieren. p2b_343.020 Überflüssig war alles bereitet, was jeder begehrte. p2b_343.021 Boten auf Boten gingen in's Land und luden die Gäste, p2b_343.022 Vögel und Tiere machten sich auf; sie kamen zu Paaren, p2b_343.023 Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen. p2b_343.024 Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause, p2b_343.025 Dachte nicht nach Hofe zu gehn, der verlogene Pilger; p2b_343.026 Wenig Dankes erwartet' er sich. Nach altem Gebrauche p2b_343.027 Seine Tücke zu üben gefiel am besten dem Schelme. p2b_343.028 Und man hörte bei Hof die allerschönsten Gesänge; p2b_343.029 Speis' und Trank ward über und über den Gästen gereichet; p2b_343.030 Und man sah turnieren und fechten. Es hatte sich jeder p2b_343.031 Zu den Seinen gesellt, da ward getanzt und gesungen, p2b_343.032 Und man hörte Pfeifen dazwischen und hörte Schalmeien. p2b_343.033 Freundlich schaute der König von seinem Saale hernieder; p2b_343.034 Jhm behagte das große Getümmel, er sah es mit Freuden. p2b_343.035 Und acht Tage waren vorbei (es hatte der König p2b_343.036 Sich zu Tafel gesetzt mit seinen ersten Baronen, p2b_343.037 Neben der Königin saß er), und blutig kam das Kaninchen p2b_343.038 Vor den König getreten und sprach mit traurigem Sinne: p2b_343.039
Herr! Herr König! und alle zusammen! erbarmet euch meiner! p2b_343.040 Denn ihr habt so argen Verrat und mördrische Thaten, p2b_343.041 Wie ich von Reineken diesmal erduldet, nur selten vernommen. p2b_343.042 Gestern Morgen fand ich ihn sitzen, es war um die sechste p2b_343.043 Stunde, da ging ich die Straße vor Malepartus vorüber; p2b_343.044 Und ich dachte den Weg in Frieden zu ziehen. Er hatte, p2b_343.045 Wie ein Pilger gekleidet, als läs' er Morgengebete, p2b_343.046 Sich vor seine Pforte gesetzt. Da wollt' ich behende p2b_343.047 Meines Weges vorbei, zu eurem Hofe zu kommen. p2b_343.048 Als er mich sah, erhub er sich gleich und trat mir entgegen, p2b_343.049 Und ich glaubt' er wollte mich grüßen; da faßt' er mich aber p2b_343.001 p2b_343.004 p2b_343.006 Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe. p2b_343.012Siebenter Gesang. p2b_343.013Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet, p2b_343.014 Manche Ritter kamen dahin; den sämtlichen Tieren p2b_343.015 Folgten unzählige Vögel und alle zusammen verehrten p2b_343.016 Braun und Jsegrim hoch, die ihrer Leiden vergaßen. p2b_343.017 Da ergötzte sich festlich die beste Gesellschaft, die jemals p2b_343.018 Nur beisammen gewesen; Trompeten und Pauken erklangen, p2b_343.019 Und den Hoftanz führte man auf mit guten Manieren. p2b_343.020 Überflüssig war alles bereitet, was jeder begehrte. p2b_343.021 Boten auf Boten gingen in's Land und luden die Gäste, p2b_343.022 Vögel und Tiere machten sich auf; sie kamen zu Paaren, p2b_343.023 Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen. p2b_343.024 Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause, p2b_343.025 Dachte nicht nach Hofe zu gehn, der verlogene Pilger; p2b_343.026 Wenig Dankes erwartet' er sich. Nach altem Gebrauche p2b_343.027 Seine Tücke zu üben gefiel am besten dem Schelme. p2b_343.028 Und man hörte bei Hof die allerschönsten Gesänge; p2b_343.029 Speis' und Trank ward über und über den Gästen gereichet; p2b_343.030 Und man sah turnieren und fechten. Es hatte sich jeder p2b_343.031 Zu den Seinen gesellt, da ward getanzt und gesungen, p2b_343.032 Und man hörte Pfeifen dazwischen und hörte Schalmeien. p2b_343.033 Freundlich schaute der König von seinem Saale hernieder; p2b_343.034 Jhm behagte das große Getümmel, er sah es mit Freuden. p2b_343.035 Und acht Tage waren vorbei (es hatte der König p2b_343.036 Sich zu Tafel gesetzt mit seinen ersten Baronen, p2b_343.037 Neben der Königin saß er), und blutig kam das Kaninchen p2b_343.038 Vor den König getreten und sprach mit traurigem Sinne: p2b_343.039
Herr! Herr König! und alle zusammen! erbarmet euch meiner! p2b_343.040 Denn ihr habt so argen Verrat und mördrische Thaten, p2b_343.041 Wie ich von Reineken diesmal erduldet, nur selten vernommen. p2b_343.042 Gestern Morgen fand ich ihn sitzen, es war um die sechste p2b_343.043 Stunde, da ging ich die Straße vor Malepartus vorüber; p2b_343.044 Und ich dachte den Weg in Frieden zu ziehen. Er hatte, p2b_343.045 Wie ein Pilger gekleidet, als läs' er Morgengebete, p2b_343.046 Sich vor seine Pforte gesetzt. Da wollt' ich behende p2b_343.047 Meines Weges vorbei, zu eurem Hofe zu kommen. p2b_343.048 Als er mich sah, erhub er sich gleich und trat mir entgegen, p2b_343.049 Und ich glaubt' er wollte mich grüßen; da faßt' er mich aber <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0365" n="343"/><lb n="p2b_343.001"/> den Fuchs bei Nobel wegen seiner hinterlistigen Betrügereien. Reineke weiß <lb n="p2b_343.002"/> sich herauszulügen, so daß er zuletzt sogar noch von Nobel mit Ehren überhäuft <lb n="p2b_343.003"/> wird.</p> <p><lb n="p2b_343.004"/> Grundgedanke: List und Ränke gewinnen im Leben die Oberhand über <lb n="p2b_343.005"/> Gutmütigkeit und Ehrlichkeit; Schlauheit und Selbstsucht regieren die Welt.</p> <p><lb n="p2b_343.006"/> Die neue Ausgabe der klassischen Übersetzung unseres Goethe mit Kaulbachs <lb n="p2b_343.007"/> Jllustrationen hat den Vorzug der Anschaulichkeit durch das Bild, indem <lb n="p2b_343.008"/> es Kaulbach wie kein zweiter verstand, tierische Gestalten und Physiognomien <lb n="p2b_343.009"/> zur typischen Darstellung menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften in den <lb n="p2b_343.010"/> richtigen Situationen aufzufassen und zu verwerten.</p> <lb n="p2b_343.011"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe.</hi> </hi> </p> <lb n="p2b_343.012"/> <p> <hi rendition="#c">Siebenter Gesang.</hi> </p> <lb n="p2b_343.013"/> <lg> <l>Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet,</l> <lb n="p2b_343.014"/> <l>Manche Ritter kamen dahin; den sämtlichen Tieren</l> <lb n="p2b_343.015"/> <l>Folgten unzählige Vögel und alle zusammen verehrten</l> <lb n="p2b_343.016"/> <l>Braun und Jsegrim hoch, die ihrer Leiden vergaßen.</l> <lb n="p2b_343.017"/> <l>Da ergötzte sich festlich die beste Gesellschaft, die jemals</l> <lb n="p2b_343.018"/> <l>Nur beisammen gewesen; Trompeten und Pauken erklangen,</l> <lb n="p2b_343.019"/> <l>Und den Hoftanz führte man auf mit guten Manieren.</l> <lb n="p2b_343.020"/> <l>Überflüssig war alles bereitet, was jeder begehrte.</l> <lb n="p2b_343.021"/> <l>Boten auf Boten gingen in's Land und luden die Gäste,</l> <lb n="p2b_343.022"/> <l>Vögel und Tiere machten sich auf; sie kamen zu Paaren,</l> <lb n="p2b_343.023"/> <l>Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen. </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_343.024"/> <l>Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause,</l> <lb n="p2b_343.025"/> <l>Dachte nicht nach Hofe zu gehn, der verlogene Pilger;</l> <lb n="p2b_343.026"/> <l>Wenig Dankes erwartet' er sich. 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den Fuchs bei Nobel wegen seiner hinterlistigen Betrügereien. Reineke weiß p2b_343.002
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wird.
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Grundgedanke: List und Ränke gewinnen im Leben die Oberhand über p2b_343.005
Gutmütigkeit und Ehrlichkeit; Schlauheit und Selbstsucht regieren die Welt.
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Die neue Ausgabe der klassischen Übersetzung unseres Goethe mit Kaulbachs p2b_343.007
Jllustrationen hat den Vorzug der Anschaulichkeit durch das Bild, indem p2b_343.008
es Kaulbach wie kein zweiter verstand, tierische Gestalten und Physiognomien p2b_343.009
zur typischen Darstellung menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften in den p2b_343.010
richtigen Situationen aufzufassen und zu verwerten.
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Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe.
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Siebenter Gesang.
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Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet, p2b_343.014
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Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen.
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Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause, p2b_343.025
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Wenig Dankes erwartet' er sich. Nach altem Gebrauche p2b_343.027
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Und man hörte bei Hof die allerschönsten Gesänge; p2b_343.029
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Und man hörte Pfeifen dazwischen und hörte Schalmeien. p2b_343.033
Freundlich schaute der König von seinem Saale hernieder; p2b_343.034
Jhm behagte das große Getümmel, er sah es mit Freuden.
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Und acht Tage waren vorbei (es hatte der König p2b_343.036
Sich zu Tafel gesetzt mit seinen ersten Baronen, p2b_343.037
Neben der Königin saß er), und blutig kam das Kaninchen p2b_343.038
Vor den König getreten und sprach mit traurigem Sinne:
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Herr! Herr König! und alle zusammen! erbarmet euch meiner! p2b_343.040
Denn ihr habt so argen Verrat und mördrische Thaten, p2b_343.041
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Gestern Morgen fand ich ihn sitzen, es war um die sechste p2b_343.043
Stunde, da ging ich die Straße vor Malepartus vorüber; p2b_343.044
Und ich dachte den Weg in Frieden zu ziehen. Er hatte, p2b_343.045
Wie ein Pilger gekleidet, als läs' er Morgengebete, p2b_343.046
Sich vor seine Pforte gesetzt. Da wollt' ich behende p2b_343.047
Meines Weges vorbei, zu eurem Hofe zu kommen. p2b_343.048
Als er mich sah, erhub er sich gleich und trat mir entgegen, p2b_343.049
Und ich glaubt' er wollte mich grüßen; da faßt' er mich aber
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Zitationshilfe: | Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/365>, abgerufen am 16.07.2024. |