Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_014.001 "Jch will die Fluren meiden p2b_014.002 (u. s. w.)(Rückert.)Mit meinem trüben Gram, p2b_014.003 Daß nicht der Lenz muß scheiden, p2b_014.004 Wo ich zu nahe kam." p2b_014.005 "Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer, p2b_014.008 (Goethe.)Jch finde sie nimmer und nimmermehr." p2b_014.009 p2b_014.012 "Was mir nicht gesungen ist, p2b_014.015 (Rückert.)Jst mir nicht gelebet." p2b_014.016 p2b_014.038 p2b_014.001 „Jch will die Fluren meiden p2b_014.002 (u. s. w.)(Rückert.)Mit meinem trüben Gram, p2b_014.003 Daß nicht der Lenz muß scheiden, p2b_014.004 Wo ich zu nahe kam.“ p2b_014.005 „Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer, p2b_014.008 (Goethe.)Jch finde sie nimmer und nimmermehr.“ p2b_014.009 p2b_014.012 „Was mir nicht gesungen ist, p2b_014.015 (Rückert.)Jst mir nicht gelebet.“ p2b_014.016 p2b_014.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div> <pb facs="#f0036" n="14"/> <lb n="p2b_014.001"/> <p><lg><l>„Jch will die Fluren meiden</l><lb n="p2b_014.002"/><l>Mit meinem trüben Gram,</l><lb n="p2b_014.003"/><l>Daß nicht der Lenz muß scheiden,</l><lb n="p2b_014.004"/><l>Wo ich zu nahe kam.“ </l></lg>(u. s. w.)<hi rendition="#right">(Rückert.)</hi></p> <p><lb n="p2b_014.005"/> Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen, <lb n="p2b_014.006"/> was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht.</p> <lb n="p2b_014.007"/> <p> <lg> <l>„Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer,</l> <lb n="p2b_014.008"/> <l>Jch finde sie nimmer und nimmermehr.“</l> </lg> <hi rendition="#right">(Goethe.)</hi> </p> <p><lb n="p2b_014.009"/> Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer <lb n="p2b_014.010"/> den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl, <lb n="p2b_014.011"/> unbeachtet zu sein.</p> <p><lb n="p2b_014.012"/> 2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das <lb n="p2b_014.013"/> Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.</p> <lb n="p2b_014.014"/> <p> <lg> <l>„Was mir nicht gesungen ist,</l> <lb n="p2b_014.015"/> <l>Jst mir nicht gelebet.“</l> </lg> <hi rendition="#right">(Rückert.)</hi> </p> <p><lb n="p2b_014.016"/> Dann aber ist auch die Welt <hi rendition="#g">seine</hi> Welt geworden, und diese seine <lb n="p2b_014.017"/> innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte <lb n="p2b_014.018"/> Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt <lb n="p2b_014.019"/> es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei <lb n="p2b_014.020"/> solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das <lb n="p2b_014.021"/> ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung <lb n="p2b_014.022"/> der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann <lb n="p2b_014.023"/> von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf <hi rendition="#g">einer</hi> Stufe <lb n="p2b_014.024"/> mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken <lb n="p2b_014.025"/> will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern: <lb n="p2b_014.026"/> man muß auch <hi rendition="#g">erhöht empfinden.</hi> Begeisterung allein ist nicht genug; <lb n="p2b_014.027"/> man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter <lb n="p2b_014.028"/> uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor <lb n="p2b_014.029"/> Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr <lb n="p2b_014.030"/> als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, <lb n="p2b_014.031"/> ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen <lb n="p2b_014.032"/> zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer <lb n="p2b_014.033"/> sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, <lb n="p2b_014.034"/> eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns <lb n="p2b_014.035"/> in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich <lb n="p2b_014.036"/> sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst <lb n="p2b_014.037"/> zu verdecken suchen.“</p> <p><lb n="p2b_014.038"/> 3. Aus dem Bereich der <hi rendition="#g">eigentlichen</hi> Lyrik tritt der Dichter heraus, <lb n="p2b_014.039"/> der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen <lb n="p2b_014.040"/> bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben <lb n="p2b_014.041"/> macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft. <lb n="p2b_014.042"/> Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer <lb n="p2b_014.043"/> andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet, <lb n="p2b_014.044"/> mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0036]
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„Jch will die Fluren meiden p2b_014.002
Mit meinem trüben Gram, p2b_014.003
Daß nicht der Lenz muß scheiden, p2b_014.004
Wo ich zu nahe kam.“
(u. s. w.)(Rückert.)
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Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen, p2b_014.006
was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht.
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„Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer, p2b_014.008
Jch finde sie nimmer und nimmermehr.“
(Goethe.)
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Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer p2b_014.010
den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl, p2b_014.011
unbeachtet zu sein.
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2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das p2b_014.013
Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.
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„Was mir nicht gesungen ist, p2b_014.015
Jst mir nicht gelebet.“
(Rückert.)
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Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine p2b_014.017
innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte p2b_014.018
Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt p2b_014.019
es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei p2b_014.020
solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das p2b_014.021
ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung p2b_014.022
der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann p2b_014.023
von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe p2b_014.024
mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken p2b_014.025
will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern: p2b_014.026
man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; p2b_014.027
man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter p2b_014.028
uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor p2b_014.029
Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr p2b_014.030
als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, p2b_014.031
ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen p2b_014.032
zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer p2b_014.033
sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, p2b_014.034
eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns p2b_014.035
in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich p2b_014.036
sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst p2b_014.037
zu verdecken suchen.“
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3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus, p2b_014.039
der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen p2b_014.040
bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben p2b_014.041
macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft. p2b_014.042
Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer p2b_014.043
andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet, p2b_014.044
mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen.
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