p2b_255.001 3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand p2b_255.002 der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären p2b_255.003 strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und p2b_255.004 Bohne.)
p2b_255.005 Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen p2b_255.006 Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten p2b_255.007 in anderer Form wieder aufgetaucht wären: - zunächst in der Sage als Helden, p2b_255.008 sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt, p2b_255.009 welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.
p2b_255.010 Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben p2b_255.011 vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die p2b_255.012 Phantasie; dann in der Sage - die durch die Phantasie ergänzte oder alteriertep2b_255.013 Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung. p2b_255.014 (Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge p2b_255.015 hat Görres in der Einleitung zum "Heldenbuch von Jran" [I. p. III. IV.] p2b_255.016 anschaulich nachgewiesen.)
p2b_255.017 Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden p2b_255.018 Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen p2b_255.019 der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger p2b_255.020 Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen p2b_255.021 und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung p2b_255.022 mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht p2b_255.023 mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie - wie erwähnt - in die p2b_255.024 Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert p2b_255.025 sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles p2b_255.026 Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der p2b_255.027 Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt p2b_255.028 des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden p2b_255.029 den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich p2b_255.030 in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden. p2b_255.031 Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest p2b_255.032 unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen p2b_255.033 fort.
p2b_255.034 4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalenp2b_255.035 Sage, welche durchaus auf einer - wenn auch veränderten - Geschichte p2b_255.036 (auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition) p2b_255.037 beruht:
p2b_255.038 a. Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und p2b_255.039 Ort, wenn auch falsch oder entstellt.
p2b_255.040 Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollenp2b_255.041 doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen p2b_255.042 im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von p2b_255.043 Riesen und Helden sein.
p2b_255.044 Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen
p2b_255.001 3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand p2b_255.002 der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären p2b_255.003 strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und p2b_255.004 Bohne.)
p2b_255.005 Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen p2b_255.006 Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten p2b_255.007 in anderer Form wieder aufgetaucht wären: ─ zunächst in der Sage als Helden, p2b_255.008 sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt, p2b_255.009 welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.
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p2b_255.017 Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden p2b_255.018 Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen p2b_255.019 der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger p2b_255.020 Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen p2b_255.021 und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung p2b_255.022 mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht p2b_255.023 mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie ─ wie erwähnt ─ in die p2b_255.024 Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert p2b_255.025 sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles p2b_255.026 Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der p2b_255.027 Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt p2b_255.028 des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden p2b_255.029 den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich p2b_255.030 in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden. p2b_255.031 Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest p2b_255.032 unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen p2b_255.033 fort.
p2b_255.034 4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalenp2b_255.035 Sage, welche durchaus auf einer ─ wenn auch veränderten ─ Geschichte p2b_255.036 (auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition) p2b_255.037 beruht:
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4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen p2b_255.035
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/277>, abgerufen am 25.11.2024.
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