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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst p2b_233.002
spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von p2b_233.003
der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das p2b_233.004
zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab, p2b_233.005
losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen.

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2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen p2b_233.007
haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen p2b_233.008
von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich p2b_233.009
ruhende Äußerlichkeiten.

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3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer p2b_233.011
Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter.

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Beispiele der Jdylle.

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a. Minna, von Tiedge.

p2b_233.014
[Beginn Spaltensatz]
Der Frühling war gekommen. Schön p2b_233.015
Wie dünner Rosenflor umfloß, p2b_233.016
Jm frischen Morgenrot gefärbt, p2b_233.017
Ein Nebel sanft das Birkenthal; p2b_233.018
Da saß am blühenden Gebüsch p2b_233.019
Die fromme Minna, sah die Zweig' p2b_233.020
Jm schönen Morgennebel sich p2b_233.021
So lieblich neigen und von fern p2b_233.022
Stieg aus betauter Roggensaat p2b_233.023
Die Lerche jubilierend auf; p2b_233.024
Und leise, leise lispelte p2b_233.025
Das Wasser durch die Wiesen hin, p2b_233.026
Zu tränken den erstorbnen Klee.
p2b_233.027
Das süße Lied der Nachtigall p2b_233.028
Floß ihr in sanftem, kühlen Weh'n p2b_233.029
Nur selten, aber himmlisch süß, p2b_233.030
Vom weißen Schlehenbusch herab. p2b_233.031
Die Wiesenblumen nickten ihr p2b_233.032
Den stillen guten Morgen zu. p2b_233.033
Die Wonne drang mit süßer Macht p2b_233.034
Jn Minnas Engelseel' und goß p2b_233.035
Sich jetzt in frommen Seufzern aus. p2b_233.036
Sie faltete mit: "Gott, o Gott!" p2b_233.037
Die kleinen weißen Händ', und ach! p2b_233.038
Jhr Blick, voll schöner Andacht, stieg p2b_233.039
Zum rotbestreiften Himmel auf.
p2b_233.040
"Ja, es ist wahr," rief sie, "was oft p2b_233.041
Mein guter Vater mir gesagt; p2b_233.042
Es ist ein Gott, der alles hier p2b_233.043
Um mich herum so reizend schuf." p2b_233.044
Und hell und immer heller blüht' p2b_233.045
Jn ihrem rosigen Gesicht p2b_233.046
Die stille Seelenandacht auf.
[Spaltenumbruch] p2b_233.101
Und schön und immer schöner schwamm p2b_233.102
Die fromme Thrän' um ihren Blick, p2b_233.103
Wie Tau auf Morgenveilchen bebt.
p2b_233.104
"Wenn Gott schon diese Welt", so fuhr p2b_233.105
Der kleine, sanfte Engel fort, p2b_233.106
"So wunderbarlich ausgeschmückt, p2b_233.107
Wie unbeschreiblich schön muß es p2b_233.108
Bei diesem Gott im Himmel sein! p2b_233.109
O gieb, du guter Gott, daß ich p2b_233.110
Zu einem Engel reif' und einst p2b_233.111
Aus dieser schönen Frühlingswelt p2b_233.112
Jn jene schönre komme, wo p2b_233.113
Mein Mütterchen schon lange wohnt, p2b_233.114
Die, ach! in diesem Augenblick p2b_233.115
Vielleicht an ihre Minna denkt."
p2b_233.116
Jetzt trat ihr Vater, welcher sie p2b_233.117
Still hinter einem Schlehenbusch p2b_233.118
Belauscht, hervor, und hielt in ihr p2b_233.119
Sein ganzes Vaterglück im Arm. p2b_233.120
Umschlungen hielt er sie so dicht, p2b_233.121
Wie sich die Reb' um's Gitter schlingt, p2b_233.122
Und eine Thräne zitterte p2b_233.123
Von seiner grauen Wimper still p2b_233.124
Auf Minnas rote Wang' herab. p2b_233.125
Und sie verbarg ihr schön Gesicht p2b_233.126
Errötend in sein Silberhaar.
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"Kind!" sprach er, "frömmer hast du nie p2b_233.128
Zu Gott gebetet, und dein Gott p2b_233.129
Erhöret dein Gebet gewiß. p2b_233.130
Wenn du als Engel wirst dereinst p2b_233.131
Um deine Mutter schweben, dann, p2b_233.132
Dann segne diesen Tag noch, Kind!"
[Ende Spaltensatz]

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Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst p2b_233.002
spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von p2b_233.003
der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das p2b_233.004
zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab, p2b_233.005
losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen.

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2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen p2b_233.007
haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen p2b_233.008
von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich p2b_233.009
ruhende Äußerlichkeiten.

p2b_233.010
3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer p2b_233.011
Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter.

p2b_233.012
Beispiele der Jdylle.

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a. Minna, von Tiedge.

p2b_233.014
[Beginn Spaltensatz]
Der Frühling war gekommen. Schön p2b_233.015
Wie dünner Rosenflor umfloß, p2b_233.016
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Sich jetzt in frommen Seufzern aus. p2b_233.036
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Umschlungen hielt er sie so dicht, p2b_233.121
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[233/0255] p2b_233.001 Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst p2b_233.002 spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von p2b_233.003 der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das p2b_233.004 zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab, p2b_233.005 losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen. p2b_233.006 2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen p2b_233.007 haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen p2b_233.008 von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich p2b_233.009 ruhende Äußerlichkeiten. p2b_233.010 3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer p2b_233.011 Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter. p2b_233.012 Beispiele der Jdylle. p2b_233.013 a. Minna, von Tiedge. p2b_233.014 Der Frühling war gekommen. Schön p2b_233.015 Wie dünner Rosenflor umfloß, p2b_233.016 Jm frischen Morgenrot gefärbt, p2b_233.017 Ein Nebel sanft das Birkenthal; p2b_233.018 Da saß am blühenden Gebüsch p2b_233.019 Die fromme Minna, sah die Zweig' p2b_233.020 Jm schönen Morgennebel sich p2b_233.021 So lieblich neigen und von fern p2b_233.022 Stieg aus betauter Roggensaat p2b_233.023 Die Lerche jubilierend auf; p2b_233.024 Und leise, leise lispelte p2b_233.025 Das Wasser durch die Wiesen hin, p2b_233.026 Zu tränken den erstorbnen Klee. p2b_233.027 Das süße Lied der Nachtigall p2b_233.028 Floß ihr in sanftem, kühlen Weh'n p2b_233.029 Nur selten, aber himmlisch süß, p2b_233.030 Vom weißen Schlehenbusch herab. p2b_233.031 Die Wiesenblumen nickten ihr p2b_233.032 Den stillen guten Morgen zu. p2b_233.033 Die Wonne drang mit süßer Macht p2b_233.034 Jn Minnas Engelseel' und goß p2b_233.035 Sich jetzt in frommen Seufzern aus. p2b_233.036 Sie faltete mit: „Gott, o Gott!“ p2b_233.037 Die kleinen weißen Händ', und ach! p2b_233.038 Jhr Blick, voll schöner Andacht, stieg p2b_233.039 Zum rotbestreiften Himmel auf. p2b_233.040 „Ja, es ist wahr,“ rief sie, „was oft p2b_233.041 Mein guter Vater mir gesagt; p2b_233.042 Es ist ein Gott, der alles hier p2b_233.043 Um mich herum so reizend schuf.“ p2b_233.044 Und hell und immer heller blüht' p2b_233.045 Jn ihrem rosigen Gesicht p2b_233.046 Die stille Seelenandacht auf. p2b_233.101 Und schön und immer schöner schwamm p2b_233.102 Die fromme Thrän' um ihren Blick, p2b_233.103 Wie Tau auf Morgenveilchen bebt. p2b_233.104 „Wenn Gott schon diese Welt“, so fuhr p2b_233.105 Der kleine, sanfte Engel fort, p2b_233.106 „So wunderbarlich ausgeschmückt, p2b_233.107 Wie unbeschreiblich schön muß es p2b_233.108 Bei diesem Gott im Himmel sein! p2b_233.109 O gieb, du guter Gott, daß ich p2b_233.110 Zu einem Engel reif' und einst p2b_233.111 Aus dieser schönen Frühlingswelt p2b_233.112 Jn jene schönre komme, wo p2b_233.113 Mein Mütterchen schon lange wohnt, p2b_233.114 Die, ach! in diesem Augenblick p2b_233.115 Vielleicht an ihre Minna denkt.“ p2b_233.116 Jetzt trat ihr Vater, welcher sie p2b_233.117 Still hinter einem Schlehenbusch p2b_233.118 Belauscht, hervor, und hielt in ihr p2b_233.119 Sein ganzes Vaterglück im Arm. p2b_233.120 Umschlungen hielt er sie so dicht, p2b_233.121 Wie sich die Reb' um's Gitter schlingt, p2b_233.122 Und eine Thräne zitterte p2b_233.123 Von seiner grauen Wimper still p2b_233.124 Auf Minnas rote Wang' herab. p2b_233.125 Und sie verbarg ihr schön Gesicht p2b_233.126 Errötend in sein Silberhaar. p2b_233.127 „Kind!“ sprach er, „frömmer hast du nie p2b_233.128 Zu Gott gebetet, und dein Gott p2b_233.129 Erhöret dein Gebet gewiß. p2b_233.130 Wenn du als Engel wirst dereinst p2b_233.131 Um deine Mutter schweben, dann, p2b_233.132 Dann segne diesen Tag noch, Kind!“

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/255>, abgerufen am 22.11.2024.