Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_149.001 Leidender, ewiger Geist p2b_149.010 Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde, p2b_149.011 Das nur rufe zurück! p2b_149.012 O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen! p2b_149.013 Warum liegt ihr zerstreut? p2b_149.014 Warum lieget ihr nicht in blühenden Thalen beisammen? p2b_149.015 Oder in Hainen vereint? p2b_149.016 Leitet den sterbenden Greis! Jch will mit wankendem Fuße p2b_149.017 Gehn, auf jegliches Grab p2b_149.018 Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume p2b_149.019 Für die Enkel erziehn, p2b_149.020 Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung p2b_149.021 Meiner Unsterblichen sehn, p2b_149.022 Zitternd gen Himmel erheben mein Haupt, und weinen, und sterben! p2b_149.023 Senket den Toten dann ein p2b_149.024 Bei dem Grabe, bei dem er starb! Nimm dann, o Verwesung! p2b_149.025 Meine Thränen, und mich! ... p2b_149.026 Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern! p2b_149.027 Wie die Ewigkeit ernst, p2b_149.028 Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele p2b_149.029 Faßt dich, Gedanke, nicht mehr! p2b_149.030 p2b_149.034 Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest, p2b_149.036 Wert, in dieser Beschattung nicht zu wachsen, p2b_149.037 Wert, schnell wegzublühen, der Blumen Edens p2b_149.038 Beßre Gespielin!(Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.) p2b_149.039 Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen, p2b_149.040 Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste. p2b_149.041 Doch ein Sturmwind wird (o er kömmt! entflieh du, p2b_149.042 Eh' er daher rauscht), p2b_149.043
Grausam, indem du nun am hellsten glänzest, p2b_149.044 Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet, p2b_149.045 Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern, p2b_149.046 Aber durch Thränen! p2b_149.001 Leidender, ewiger Geist p2b_149.010 Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde, p2b_149.011 Das nur rufe zurück! p2b_149.012 O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen! p2b_149.013 Warum liegt ihr zerstreut? p2b_149.014 Warum lieget ihr nicht in blühenden Thalen beisammen? p2b_149.015 Oder in Hainen vereint? p2b_149.016 Leitet den sterbenden Greis! Jch will mit wankendem Fuße p2b_149.017 Gehn, auf jegliches Grab p2b_149.018 Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume p2b_149.019 Für die Enkel erziehn, p2b_149.020 Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung p2b_149.021 Meiner Unsterblichen sehn, p2b_149.022 Zitternd gen Himmel erheben mein Haupt, und weinen, und sterben! p2b_149.023 Senket den Toten dann ein p2b_149.024 Bei dem Grabe, bei dem er starb! Nimm dann, o Verwesung! p2b_149.025 Meine Thränen, und mich! ... p2b_149.026 Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern! p2b_149.027 Wie die Ewigkeit ernst, p2b_149.028 Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele p2b_149.029 Faßt dich, Gedanke, nicht mehr! p2b_149.030 p2b_149.034 Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest, p2b_149.036 Wert, in dieser Beschattung nicht zu wachsen, p2b_149.037 Wert, schnell wegzublühen, der Blumen Edens p2b_149.038 Beßre Gespielin!(Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.) p2b_149.039 Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen, p2b_149.040 Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste. p2b_149.041 Doch ein Sturmwind wird (o er kömmt! entflieh du, p2b_149.042 Eh' er daher rauscht), p2b_149.043
Grausam, indem du nun am hellsten glänzest, p2b_149.044 Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet, p2b_149.045 Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern, p2b_149.046 Aber durch Thränen! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0171" n="149"/><lb n="p2b_149.001"/> „An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden <lb n="p2b_149.002"/> veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen, <lb n="p2b_149.003"/> der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von <lb n="p2b_149.004"/> denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich <lb n="p2b_149.005"/> vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses <lb n="p2b_149.006"/> trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt <lb n="p2b_149.007"/> dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe <lb n="p2b_149.008"/> aus in der reizenden Elegie, die er also schließt:</p> <lb n="p2b_149.009"/> <lg> <l> Leidender, ewiger Geist</l> <lb n="p2b_149.010"/> <l>Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde,</l> <lb n="p2b_149.011"/> <l> Das nur rufe zurück!</l> <lb n="p2b_149.012"/> <l>O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen!</l> <lb n="p2b_149.013"/> <l> Warum liegt ihr zerstreut?</l> <lb n="p2b_149.014"/> <l>Warum lieget ihr nicht in blühenden Thalen beisammen?</l> <lb n="p2b_149.015"/> <l> Oder in Hainen vereint?</l> <lb n="p2b_149.016"/> <l>Leitet den sterbenden Greis! Jch will mit wankendem Fuße</l> <lb n="p2b_149.017"/> <l> Gehn, auf jegliches Grab</l> <lb n="p2b_149.018"/> <l>Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume</l> <lb n="p2b_149.019"/> <l> Für die Enkel erziehn,</l> <lb n="p2b_149.020"/> <l>Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung</l> <lb n="p2b_149.021"/> <l> Meiner Unsterblichen sehn,</l> <lb n="p2b_149.022"/> <l>Zitternd gen Himmel erheben mein Haupt, und weinen, und sterben!</l> <lb n="p2b_149.023"/> <l> Senket den Toten dann ein</l> <lb n="p2b_149.024"/> <l>Bei dem Grabe, bei dem er starb! Nimm dann, o Verwesung!</l> <lb n="p2b_149.025"/> <l> Meine Thränen, und mich! ...</l> <lb n="p2b_149.026"/> <l>Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern!</l> <lb n="p2b_149.027"/> <l> Wie die Ewigkeit ernst,</l> <lb n="p2b_149.028"/> <l>Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele</l> <lb n="p2b_149.029"/> <l> Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!</l> </lg> <p><lb n="p2b_149.030"/> Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin <lb n="p2b_149.031"/> des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende <lb n="p2b_149.032"/> erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der <lb n="p2b_149.033"/> Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.)</p> <p><lb n="p2b_149.034"/> Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie:</p> <lb n="p2b_149.035"/> <lg> <l> Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest,</l> <lb n="p2b_149.036"/> <l>Wert, in dieser Beschattung nicht zu wachsen,</l> <lb n="p2b_149.037"/> <l>Wert, schnell wegzublühen, der Blumen Edens</l> <lb n="p2b_149.038"/> <l>Beßre Gespielin!<hi rendition="#right">(Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.)</hi></l> </lg> <lg> <lb n="p2b_149.039"/> <l> Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen,</l> <lb n="p2b_149.040"/> <l>Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste.</l> <lb n="p2b_149.041"/> <l>Doch ein Sturmwind wird (o er kömmt! entflieh du,</l> <lb n="p2b_149.042"/> <l>Eh' er daher rauscht), </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_149.043"/> <l> Grausam, indem du nun am hellsten glänzest,</l> <lb n="p2b_149.044"/> <l>Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet,</l> <lb n="p2b_149.045"/> <l>Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern,</l> <lb n="p2b_149.046"/> <l>Aber durch Thränen!</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0171]
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„An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden p2b_149.002
veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen, p2b_149.003
der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von p2b_149.004
denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich p2b_149.005
vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses p2b_149.006
trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt p2b_149.007
dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe p2b_149.008
aus in der reizenden Elegie, die er also schließt:
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Leidender, ewiger Geist p2b_149.010
Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde, p2b_149.011
Das nur rufe zurück! p2b_149.012
O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen! p2b_149.013
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Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung p2b_149.021
Meiner Unsterblichen sehn, p2b_149.022
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Meine Thränen, und mich! ... p2b_149.026
Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern! p2b_149.027
Wie die Ewigkeit ernst, p2b_149.028
Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele p2b_149.029
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!
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Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin p2b_149.031
des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende p2b_149.032
erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der p2b_149.033
Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.)
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Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie:
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Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest, p2b_149.036
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Beßre Gespielin!(Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.)
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Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen, p2b_149.040
Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste. p2b_149.041
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Grausam, indem du nun am hellsten glänzest, p2b_149.044
Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet, p2b_149.045
Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern, p2b_149.046
Aber durch Thränen!
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Zitationshilfe: | Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/171>, abgerufen am 16.02.2025. |