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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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So erzählt Kinkel, daß ein Mitschüler weit schönere Verse gemacht habe, p1b_030.002
als er selbst, und doch ist aus demselben kein Dichter geworden. Er ist stecken p1b_030.003
geblieben. Es lag wahrscheinlich an der geringeren Urkräftigkeit der Anlagen p1b_030.004
oder der nicht fortgesetzten Übung. Anlage und Arbeit fügen beim gewordenen p1b_030.005
Genie eben nach und nach
jenes geheimnisvolle Etwas hinzu, p1b_030.006
das, wie Bodenstedt sagt, später den Poeten mache, und für welches er p1b_030.007
noch in keinem Lehrbuche der Ästhetik und Poetik den treffenden Ausdruck p1b_030.008
gefunden habe, oder mit den Worten Gottschalls: "jenen unsagbaren geistigen p1b_030.009
Duft, der uns gefangen nimmt mit eigentümlicher Trunkenheit und das Gefühl p1b_030.010
giebt, wir leben in einer Welt, die der Genius schuf!"

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Lessing spricht in seiner Hamb. Dramaturgie 1767 gelegentlich einer Kritik p1b_030.012
von Marmontels Drama Soliman vom erfinderischen, entwickelten Dichtergenie, p1b_030.013
wobei mancher Satz als fermentum cognitionis im Sinn des 95. Stücks der p1b_030.014
Dramaturgie (am Schluß) erscheinen könnte, als Anerkennung einer besonderen p1b_030.015
Species des homo nobilis, ja, als Widerspruch zu seinem von uns S. 2 d. B. p1b_030.016
citierten Ausspruches, nach welchem wir das Genie durch die Erziehung bekommen p1b_030.017
müssen. Man vgl. z. B. die Stelle im 34. St.: "Dem Genie ist es vergönnt, p1b_030.018
tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß" bis zum p1b_030.019
Schluß: "Was wir besser wissen, beweist bloß, daß wir fleißiger zur Schule p1b_030.020
gegangen, als der Genius, und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht p1b_030.021
vollkommene Dummköpfe bleiben wollten" &c. Der Zusammenhang, und nachstehende p1b_030.022
Sätze zeigen jedoch, daß Lessing seiner 8 Jahre früher ausgesprochenen p1b_030.023
Ansicht treu blieb: "Mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was p1b_030.024
das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet.... Es ist wahr, mit dergleichen p1b_030.025
leidigen Nachahmungen fängt das Genie an zu lernen; es sind p1b_030.026
seine Vorübungen.... Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger p1b_030.027
Mensch, der erst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie p1b_030.028
schildern.... Das größte (komische) Genie zeigt sich in seinen Jugendwerken p1b_030.029
hohl und leer. Selbst von den ersten Stücken des Menander sagt Plutarch, p1b_030.030
daß sie mit seinen späteren und letzten Stücken gar nicht zu vergleichen gewesen" p1b_030.031
u. s. w.

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Jean Jacques Rousseau scheint wohl das geborene Genie anzunehmen, p1b_030.033
kann aber - wenn man seine Ansicht mit unseren Augen mißt -, p1b_030.034
doch nichts weiter als einen gut beanlagten Menschen gemeint haben. Er p1b_030.035
sagt: "Frage nicht lange, junger Künstler, was Genie sei. Hast du Genie, p1b_030.036
so weißt du schon, was es ist; hast du keines, so lernst du es nie kennen. p1b_030.037
Das Genie des Musikers herrscht mit seiner Kunst über das ganze Universum; p1b_030.038
es malt alle Scenen in Tönen, dem Stillschweigen selbst leihet es Sprache; p1b_030.039
es giebt Jdeen in Empfindungen, Empfindungen in Tönen; es malet Leidenschaften, p1b_030.040
und indem es sie malt, entstehen sie in den Herzen der Zuhörer. p1b_030.041
Freude malt das Genie in neuen Reizen, der Schmerz, den es ertönen läßt, p1b_030.042
zwingt uns Geschrei ab, es wallt vollständig über und verzehret sich niemals. p1b_030.043
Es malt mit Wärme die Kälte und den Frost, und, selbst wenn es die p1b_030.044
Schrecken des Todes vor die Seele des Hörers stellt, teilt es dem Hörer ein

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So erzählt Kinkel, daß ein Mitschüler weit schönere Verse gemacht habe, p1b_030.002
als er selbst, und doch ist aus demselben kein Dichter geworden. Er ist stecken p1b_030.003
geblieben. Es lag wahrscheinlich an der geringeren Urkräftigkeit der Anlagen p1b_030.004
oder der nicht fortgesetzten Übung. Anlage und Arbeit fügen beim gewordenen p1b_030.005
Genie eben nach und nach
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giebt, wir leben in einer Welt, die der Genius schuf!“

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Lessing spricht in seiner Hamb. Dramaturgie 1767 gelegentlich einer Kritik p1b_030.012
von Marmontels Drama Soliman vom erfinderischen, entwickelten Dichtergenie, p1b_030.013
wobei mancher Satz als fermentum cognitionis im Sinn des 95. Stücks der p1b_030.014
Dramaturgie (am Schluß) erscheinen könnte, als Anerkennung einer besonderen p1b_030.015
Species des homo nobilis, ja, als Widerspruch zu seinem von uns S. 2 d. B. p1b_030.016
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vollkommene Dummköpfe bleiben wollten“ &c. Der Zusammenhang, und nachstehende p1b_030.022
Sätze zeigen jedoch, daß Lessing seiner 8 Jahre früher ausgesprochenen p1b_030.023
Ansicht treu blieb: „Mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was p1b_030.024
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Mensch, der erst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie p1b_030.028
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hohl und leer. Selbst von den ersten Stücken des Menander sagt Plutarch, p1b_030.030
daß sie mit seinen späteren und letzten Stücken gar nicht zu vergleichen gewesen“ p1b_030.031
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Jean Jacques Rousseau scheint wohl das geborene Genie anzunehmen, p1b_030.033
kann aber ─ wenn man seine Ansicht mit unseren Augen mißt ─, p1b_030.034
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/64>, abgerufen am 27.11.2024.