Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

p1b_571.001
Jn der Glosse mit dem Thema:

p1b_571.002
Sie hat nicht Lust mich freizulassen, p1b_571.003
Noch Lust, auch mich an's Herz zu fassen.

p1b_571.004
bietet der Dichter am Schlusse der beiden ersten 7zeiligen Strophen je eine p1b_571.005
Zeile des Themas, welches am Ende der 3. Strophe ganz wiederholt wird. p1b_571.006
(Vgl. Rückerts Ges. Ausg. I.. 521.)

p1b_571.007
Eine neue Form einer freien Glosse, in welcher sich der Dichter den Text p1b_571.008
selbst gegeben und als erste Strophe dem Gedichte einverleibt, besitzt unsere p1b_571.009
Litteratur durch Müller von der Werra. Seine Glosse erhält durch ihr p1b_571.010
jambisch anapästisches Motiv etwas Liebliches und durch Zerreißung der Zeilen p1b_571.011
etwas Freies und Bewegliches.

p1b_571.012

Dichtergruß.

p1b_571.013
Jch grüß dich' mit Liebe, p1b_571.014
Mit Blumen; ich werbe p1b_571.015
Mit Liedern und sterbe - p1b_571.016
Jch grüß' dich!
p1b_571.017
Es grünet und blühet p1b_571.018
Jm Herzen mir wonnig, p1b_571.019
So lenzig, so sonnig, p1b_571.020
Mit Liebe.
p1b_571.021
Und sieh' ich bekränze p1b_571.022
Das frohe Gedenken, p1b_571.023
Das Freunde sich schenken p1b_571.024
Mit Blumen.
p1b_571.025
Jch strebe nach Weisheit, p1b_571.026
Bis daß ich verstiebe; p1b_571.027
Jch werbe um Liebe, p1b_571.028
Jch werbe!
p1b_571.029
Mein Herze, das warme, p1b_571.030
Schlägt stets für das Schöne, p1b_571.031
Jst wert, daß ich's kröne p1b_571.032
Mit Liedern.
p1b_571.033
Drum, Freund, nur dem Himmel p1b_571.034
Vertrau' ich und trinke p1b_571.035
Sein Heil, bis ich sinke p1b_571.036
Und sterbe.
p1b_571.037
Und bin ich gestorben, p1b_571.038
So klingen die Lieder p1b_571.039
Lenzduftig noch wieder: p1b_571.040
Jch grüß Dich.

(Müller von der Werra.)

p1b_571.041
§ 175. Die Tenzone.

p1b_571.042
Tenzone (franz. tenson == Wettgesang) ist ihrer Abstammung nach p1b_571.043
ein altprovencalisches Streitgedicht. Man versteht darunter eine Art p1b_571.044
Doppelglosse, bei welcher zwei oder mehrere Personen über irgend ein p1b_571.045
freies, poetisches Thema unter Beibehaltung der (nur vom Gegner

p1b_571.001
Jn der Glosse mit dem Thema:

p1b_571.002
Sie hat nicht Lust mich freizulassen, p1b_571.003
Noch Lust, auch mich an's Herz zu fassen.

p1b_571.004
bietet der Dichter am Schlusse der beiden ersten 7zeiligen Strophen je eine p1b_571.005
Zeile des Themas, welches am Ende der 3. Strophe ganz wiederholt wird. p1b_571.006
(Vgl. Rückerts Ges. Ausg. I.. 521.)

p1b_571.007
Eine neue Form einer freien Glosse, in welcher sich der Dichter den Text p1b_571.008
selbst gegeben und als erste Strophe dem Gedichte einverleibt, besitzt unsere p1b_571.009
Litteratur durch Müller von der Werra. Seine Glosse erhält durch ihr p1b_571.010
jambisch anapästisches Motiv etwas Liebliches und durch Zerreißung der Zeilen p1b_571.011
etwas Freies und Bewegliches.

p1b_571.012

Dichtergruß.

p1b_571.013
Jch grüß dich' mit Liebe, p1b_571.014
Mit Blumen; ich werbe p1b_571.015
Mit Liedern und sterbe ─ p1b_571.016
Jch grüß' dich!
p1b_571.017
Es grünet und blühet p1b_571.018
Jm Herzen mir wonnig, p1b_571.019
So lenzig, so sonnig, p1b_571.020
Mit Liebe.
p1b_571.021
Und sieh' ich bekränze p1b_571.022
Das frohe Gedenken, p1b_571.023
Das Freunde sich schenken p1b_571.024
Mit Blumen.
p1b_571.025
Jch strebe nach Weisheit, p1b_571.026
Bis daß ich verstiebe; p1b_571.027
Jch werbe um Liebe, p1b_571.028
Jch werbe!
p1b_571.029
Mein Herze, das warme, p1b_571.030
Schlägt stets für das Schöne, p1b_571.031
Jst wert, daß ich's kröne p1b_571.032
Mit Liedern.
p1b_571.033
Drum, Freund, nur dem Himmel p1b_571.034
Vertrau' ich und trinke p1b_571.035
Sein Heil, bis ich sinke p1b_571.036
Und sterbe.
p1b_571.037
Und bin ich gestorben, p1b_571.038
So klingen die Lieder p1b_571.039
Lenzduftig noch wieder: p1b_571.040
Jch grüß Dich.

(Müller von der Werra.)

p1b_571.041
§ 175. Die Tenzone.

p1b_571.042
Tenzone (franz. tenson == Wettgesang) ist ihrer Abstammung nach p1b_571.043
ein altprovençalisches Streitgedicht. Man versteht darunter eine Art p1b_571.044
Doppelglosse, bei welcher zwei oder mehrere Personen über irgend ein p1b_571.045
freies, poetisches Thema unter Beibehaltung der (nur vom Gegner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0605" n="571"/>
              <p><lb n="p1b_571.001"/>
Jn der Glosse mit dem Thema:</p>
              <lb n="p1b_571.002"/>
              <lg>
                <l>Sie hat nicht Lust mich freizulassen,</l>
                <lb n="p1b_571.003"/>
                <l>Noch Lust, auch mich an's Herz zu fassen.</l>
              </lg>
              <p><lb n="p1b_571.004"/>
bietet der Dichter am Schlusse der beiden ersten 7zeiligen Strophen je eine <lb n="p1b_571.005"/>
Zeile des Themas, welches am Ende der 3. Strophe ganz wiederholt wird. <lb n="p1b_571.006"/>
(Vgl. Rückerts Ges. Ausg. <hi rendition="#aq">I</hi>.. 521.)</p>
              <p><lb n="p1b_571.007"/>
Eine neue Form einer freien Glosse, in welcher sich der Dichter den Text <lb n="p1b_571.008"/>
selbst gegeben und als erste Strophe dem Gedichte einverleibt, besitzt unsere <lb n="p1b_571.009"/>
Litteratur durch <hi rendition="#g">Müller von der Werra.</hi> Seine Glosse erhält durch ihr <lb n="p1b_571.010"/>
jambisch anapästisches Motiv etwas Liebliches und durch Zerreißung der Zeilen <lb n="p1b_571.011"/>
etwas Freies und Bewegliches.</p>
              <lb n="p1b_571.012"/>
              <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Dichtergruß.</hi> </hi> </p>
              <lb n="p1b_571.013"/>
              <lg>
                <l><hi rendition="#g">Jch grüß dich'</hi> mit Liebe,</l>
                <lb n="p1b_571.014"/>
                <l>Mit Blumen; ich werbe</l>
                <lb n="p1b_571.015"/>
                <l>Mit Liedern und sterbe &#x2500;</l>
                <lb n="p1b_571.016"/>
                <l> <hi rendition="#g">Jch grüß' dich!</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.017"/>
                <l>Es grünet und blühet</l>
                <lb n="p1b_571.018"/>
                <l>Jm Herzen mir wonnig,</l>
                <lb n="p1b_571.019"/>
                <l>So lenzig, so sonnig,</l>
                <lb n="p1b_571.020"/>
                <l> <hi rendition="#g">Mit Liebe.</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.021"/>
                <l>Und sieh' ich bekränze</l>
                <lb n="p1b_571.022"/>
                <l>Das frohe Gedenken,</l>
                <lb n="p1b_571.023"/>
                <l>Das Freunde sich schenken</l>
                <lb n="p1b_571.024"/>
                <l> <hi rendition="#g">Mit Blumen.</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.025"/>
                <l>Jch strebe nach Weisheit,</l>
                <lb n="p1b_571.026"/>
                <l>Bis daß ich verstiebe;</l>
                <lb n="p1b_571.027"/>
                <l>Jch werbe um Liebe,</l>
                <lb n="p1b_571.028"/>
                <l> <hi rendition="#g">Jch werbe!</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.029"/>
                <l>Mein Herze, das warme,</l>
                <lb n="p1b_571.030"/>
                <l>Schlägt stets für das Schöne,</l>
                <lb n="p1b_571.031"/>
                <l>Jst wert, daß ich's kröne</l>
                <lb n="p1b_571.032"/>
                <l> <hi rendition="#g">Mit Liedern.</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.033"/>
                <l>Drum, Freund, nur dem Himmel</l>
                <lb n="p1b_571.034"/>
                <l>Vertrau' ich und trinke</l>
                <lb n="p1b_571.035"/>
                <l>Sein Heil, bis ich sinke</l>
                <lb n="p1b_571.036"/>
                <l> <hi rendition="#g">Und sterbe.</hi> </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="p1b_571.037"/>
                <l>Und bin ich gestorben,</l>
                <lb n="p1b_571.038"/>
                <l>So klingen die Lieder</l>
                <lb n="p1b_571.039"/>
                <l>Lenzduftig noch wieder:</l>
                <lb n="p1b_571.040"/>
                <l> <hi rendition="#g">Jch grüß Dich.</hi> </l>
              </lg>
              <p> <hi rendition="#right">(Müller von der Werra.)</hi> </p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="p1b_571.041"/>
              <head> <hi rendition="#c">§ 175. Die Tenzone.</hi> </head>
              <p><lb n="p1b_571.042"/>
Tenzone (franz. <hi rendition="#aq">tenson</hi> == Wettgesang) ist ihrer Abstammung nach <lb n="p1b_571.043"/>
ein altproven<hi rendition="#aq">ç</hi>alisches Streitgedicht. Man versteht darunter eine Art <lb n="p1b_571.044"/>
Doppelglosse, bei welcher zwei oder mehrere Personen über irgend ein <lb n="p1b_571.045"/>
freies, poetisches Thema unter <hi rendition="#g">Beibehaltung</hi> der (nur vom Gegner
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[571/0605] p1b_571.001 Jn der Glosse mit dem Thema: p1b_571.002 Sie hat nicht Lust mich freizulassen, p1b_571.003 Noch Lust, auch mich an's Herz zu fassen. p1b_571.004 bietet der Dichter am Schlusse der beiden ersten 7zeiligen Strophen je eine p1b_571.005 Zeile des Themas, welches am Ende der 3. Strophe ganz wiederholt wird. p1b_571.006 (Vgl. Rückerts Ges. Ausg. I.. 521.) p1b_571.007 Eine neue Form einer freien Glosse, in welcher sich der Dichter den Text p1b_571.008 selbst gegeben und als erste Strophe dem Gedichte einverleibt, besitzt unsere p1b_571.009 Litteratur durch Müller von der Werra. Seine Glosse erhält durch ihr p1b_571.010 jambisch anapästisches Motiv etwas Liebliches und durch Zerreißung der Zeilen p1b_571.011 etwas Freies und Bewegliches. p1b_571.012 Dichtergruß. p1b_571.013 Jch grüß dich' mit Liebe, p1b_571.014 Mit Blumen; ich werbe p1b_571.015 Mit Liedern und sterbe ─ p1b_571.016 Jch grüß' dich! p1b_571.017 Es grünet und blühet p1b_571.018 Jm Herzen mir wonnig, p1b_571.019 So lenzig, so sonnig, p1b_571.020 Mit Liebe. p1b_571.021 Und sieh' ich bekränze p1b_571.022 Das frohe Gedenken, p1b_571.023 Das Freunde sich schenken p1b_571.024 Mit Blumen. p1b_571.025 Jch strebe nach Weisheit, p1b_571.026 Bis daß ich verstiebe; p1b_571.027 Jch werbe um Liebe, p1b_571.028 Jch werbe! p1b_571.029 Mein Herze, das warme, p1b_571.030 Schlägt stets für das Schöne, p1b_571.031 Jst wert, daß ich's kröne p1b_571.032 Mit Liedern. p1b_571.033 Drum, Freund, nur dem Himmel p1b_571.034 Vertrau' ich und trinke p1b_571.035 Sein Heil, bis ich sinke p1b_571.036 Und sterbe. p1b_571.037 Und bin ich gestorben, p1b_571.038 So klingen die Lieder p1b_571.039 Lenzduftig noch wieder: p1b_571.040 Jch grüß Dich. (Müller von der Werra.) p1b_571.041 § 175. Die Tenzone. p1b_571.042 Tenzone (franz. tenson == Wettgesang) ist ihrer Abstammung nach p1b_571.043 ein altprovençalisches Streitgedicht. Man versteht darunter eine Art p1b_571.044 Doppelglosse, bei welcher zwei oder mehrere Personen über irgend ein p1b_571.045 freies, poetisches Thema unter Beibehaltung der (nur vom Gegner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/605
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/605>, abgerufen am 22.11.2024.